Ein Chef! Einer von uns!
Peter Weiss’ »Marat/Sade« am Deutschen Theater Berlin
Der Fortschritt in der Geschichte. Wer links ist, muss unbedingt daran glauben? Solcher Glaube bleibt, was er immer war: »Wirklichkeitsallergie« (Günter Kunert). Heilsamer wäre, wirklich an den Menschen zu glauben. Und zwar an den sehr einzelnen. Auch wenn der statt in den Kampf lieber zu Kaufland geht. Jetzt noch über Revolution reden?
Das entsprechende Stück von Peter Weiss heißt: »Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielgruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade«. Stefan Pucher (Bühne: Barbara Ehnes) inszenierte am Deutschen Theater »Marat/Sade«. Zack, zack. Die Guillotine gleichsam als Dramaturg. Schnell runter gespielt das Ganze - es prescht und powert, alle Achtung. Sehr unterhaltsam.
Gespielt wird hier nicht im Irrenhaus, sondern in einem Puppentheater, dessen Bühne sich per Steg ins Publikum verlängert. Die Schauspieler tragen Stoffpuppen vorm Körper, sie knien oft, damit die dünnen Puppenbeinchen den Boden berühren. Oder, wie im Falle Marats, von dessen Badewannenrand baumeln. Das gute alte Kaspertheater. Marquis de Sade als Regisseur eines Etablissements, das auf dem Vorhang mit »Illusionen, Geistererscheinungen, Horror« lockt. Der Horror ist die Revolution. Die Geistererscheinungen sind die Menschen. Illusionen? Kommen hier nicht auf.
Marats Radikalität, gekontert vom Realismus de Sades, der seine Überzeugung von der »Gleichgültigkeit der Natur« in konsequenter Selbstsüchtigkeit auslebt: zwei Auswürfe der Wahrheit - und des Wahns. Der Gleichheitsphilosoph und der Ego-Fanatiker - wer hat recht? Das könnte sich wuchtig, wütend, wund ineinanderschrauben. Könnte. Aber ist doch längst Asche, dieses Feuer des kämpfenden Proletenbürgers oder Bürgerproleten. Proletheus reloaded? ... wenn mein starker Arm es will? Finger weg von solchen Phrasen! Benjamin Lillie als Priester, der zum Kämpfer wurde, ruft hier den akuten Furor aus: Weg mit der Ausbeutung, weg mit der Hochrüstung, weg mit der Bankenlobby usw.! Frage ins Publikum: »Habe ich was vergessen?« Lachen. Das ist sie, die antikapitalistische Katalogleier, die antiimperialistische Losungslitanei, das oppositionelle Parolenpaket: Alles so richtig, alles so öde - wer will’s noch hören.
In der Westberliner Uraufführung anno dunnemals siegte de Sade, in der DDR-Version in Rostock Marat. Weltfront-Theater, packend. Vor einigen Jahren zeigte Volker Lösch diesen Marat als deklamierende Lenin-Statue und als Fidel Castro, der den Hunger des Volkes nicht versteht, präsentierte Rudi Dutschke, der Strickpullover an die Armen verteilt, und Oskar Lafontaine als Phrasendrescher und Schürzenjäger, den das Schicksal der Ermordung beim Geschlechtsakt ereilt. Eine vollständige, grobe, etwas anstößige Entblödung linker Hoffnungsträger, konfrontiert mit Hamburger Hartz-IV-Empfängern, die in drastischen Szenen vom Leben ohne Geld erzählen. Metamorphosen einer Mythengalerie. Wie sie bröckelt. Parallel zu einer Realität, in der die Empörung kaum noch aus brennenden Augen springt, nein, sie ist ein müder Trendberater geworden und wirft nur noch wässrige Blicke aus der geistigen Obdachlosigkeit
Peter Weiss’ Tragik: Sein Stück taugt auch zum Porträt des großen Abebbens, der giftigen Mäßigung, des lähmenden Einschwenkens in die zivile Verträglichkeit. Gier, Genuss und Gleichgültigkeit sind die letzten Bewirtschaftungsformen einer wertporösen Gegenwart. Und das Volk? Pucher fragt - und frozzelt. Dieses Volk ist hier ein (perfekt skandierender) knäbischer Chor aus Schalterbeamten mit Krawatten und langen weißen Hemdmanschetten. Die Konfektion spielt Klassenkampf. Dazu brave schwarze Pilzkopffrisuren und rot überschmierte Münder. Die Lippenschminke verrutscht! - so jung noch, und dem Kapital schon so viel die Stiefel geküsst?
Pucher karikiert, ja. Er spielt mit dem Stoff. Aber im Grunde leidet er. Wer sein Leiden ausformt, kommt ohne Witz nicht aus - Katastrophen zerreißen uns, in laue Kämpfer und laute Komiker. Denn es wäre äußerst komisch, wenn immer wieder gesellschaftsbunte Zukunftsbilder an eine Wand gemalt würden, an der man sich gerade den Kopf einrennt.
Marat redet sich revolutionsheiß, während hinten Häppchen für den Bürgerchor gereicht werden. Ist das schon zynisch? Oder ist weit zynischer, auf Papier und Podien einem umstürzlerischen Geist zu huldigen (und ihn also zu fordern), der real an all den Weichteilen scheitert, die wir draußen mit uns herumtragen. Die Geschichte der Revolutionen durchläuft erfahrungsgemäß drei Epochen: Traum, Bestandsaufnahme, Entschuldigungen. Letztere brauchen die längste Zeit. Und Dialektik ist für Sozialisten leider nur immer die Lehre von der Schuld der anderen.
Anita Vulesica ist eine furios fesche und fun-fauchende, über den Steg jagende, zwischen die Spieler springende Animateurin im Frack. Sie stellt die Kernfrage: »Was ist eine richtige Revolution ohne schmissige Moderation?« Sie ist äußerst schmissig, schreitet ein, wenn die Text zu gesellschaftskritisch werden, ermuntert uns Zuschauer zur Diskussion »nachher im Foyer/oder schreiben Sie an ›theater.de‹!«
Felix Goeser als glatzköpfiger de Sade: räudig, röhrend, roh - ein ruppiger Regent über einen wieseligen Tingeltangel. Daniel Hoevels, langhaarig, ist Marat, eher elegisch als eisern. Der stets erhobene, ernste Kopf. Ins Wannenwasser mag das Körperblut dieses Juckreizgequälten fließen, aufs Papier fließt Herzblut. Der Kopf besiegt den Körper, weil der Kopf eine Idee hat. Kopfmächtigkeit ist schon immer die entscheidende Ohnmacht jeder Revolution gewesen, diese Aufspaltung zwischen hohem Sinn und etwas tiefer gelegenem Volksbedürfnis nach genügend Vergnügen. Zudem: Der arme Mensch ist nicht der bessere Mensch. So wie der Bürger ein Ziel ist, ja, aber keins für Henker und Hass, sondern fürs Leben.
Katrin Wiechmann gibt jene königstreue Charlotte Corday, die Marat in der Wanne ersticht: barbusig wie Frankreichs mythische Marianne - sie hat eine schöne Traumverlorenheit, die ihrem Fanatismus mit irrlichterndem Trauerrand schmückt. Videoszenen aus schmutzigen, zerrümpelten Gebäuderuinen zeigen die Gestalten des Stücks in irren, blutigen, gespenstischen Wanderungen durch ihr eigenes untotes Leben. Verlängerung des Spielbudenzaubers in die Gespenstersonate, zu der aufgespießte Köpfe tanzen.
Pucher wagt kein Pathos, darin ist er pragmatisch. Er gesteht seine Feigheit vor der Aufwiegelung, das ist seine Aufrichtigkeit. Auf die Lügen der Ideologie antwortet er mit den Halbwahrheiten der Ironie. Er zwinkert, so zeigt er Gesicht: Vielleicht sollten wir endlich verstärkt auf so manches vertrauen, was der Mensch eh nicht ändern kann. Im Geist hatte Marat schon seine entscheidende Rede vor der Nationalversammlung gehalten. Hier ist es das peitschende Schlusswort. »Mitbürger/ haben wir um die Freiheit derer gekämpft/ die uns jetzt wieder ausbeuten«. Wie wahr. Und also ruft der Chor der Bürger immer schneidender nach dem »Chef«, der uns aus der Krise führt. »Einen von uns!« Der Brüller ins Publikum. Die Protestschrei-Droge. Kleinbürgers Großklage. Biedermanns Brandrede. So sieht sie aus, die Wutwelle ohne Bewusstsein. Ohne Folgen sowieso. Denn in denen da oben auf dem Steg, in ihren so adretten wie engen Anzügen - da ist was im Anzug, das alles fordert, aber eines garantiert nicht gefährden will: die Anzugsordnung.
Nächste Vorstellung am 10. Dezember
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