Kein Ersatz für menschliche Kreativität

Mit »Das Auge des Meisters« bietet Matteo Pasquinelli eine fundierte Kritik des Technikfetischismus

Auch die Künstliche Intelligenz bedarf der menschlichen Hand.
Auch die Künstliche Intelligenz bedarf der menschlichen Hand.

Seit ChatGPT für Politiker die Reden und für Schüler*innen die Referate schreibt, ist KI – die Künstliche Intelligenz – in aller Munde. Und wie bei jeder technischen Innovation kursieren auch diesmal die fantastischsten Narrative. In Funk und Fernsehen fabuliert man von »kreativen Computern«, und die rechten High-Tech-Eliten im Silicon Valley verkünden den von ihnen schon lang propagierten Eintritt einer »technologischen Singularität« – also der evolutionären Überwindung des Menschen durch die Maschine.

Vor diesem Hintergrund stellt Matteo Pasquinellis Buch »Das Auge des Meisters. Eine Sozialgeschichte Künstlicher Intelligenz« den wohltuenden Versuch dar, einige der sich um die KI rankenden Mythen zu widerlegen. Die Kernthese des Medienphilosophen aus Italien ist dabei schnell umrissen: Sie besagt, dass nicht irgendein technologischer Fortschritt, sondern – wie es der mit Pasquinelli befreundete Politologe Sandra Mezzadra resümiert hat – »die Arbeit die Wurzel der historischen Entwicklung der KI ist«. Anders ausgedrückt: »Das Auge des Meisters« ist eine wissenschaftshistorisch bestens informierte Kritik des Technikfetischismus.

Nach einer recht voraussetzungsreichen Einleitung, die um aktuelle Technikdebatten kreist und für durchschnittliche Leser damit zu einer Hürde als zu einer Einführung wird, entwickelt Pasquinelli seine These im Hauptteil gut nachvollziehbar. Der italienische Medienphilosoph zeichnet hier zunächst einmal die Begriffsgeschichte des »Algorithmus« nach. Mit dem Begriff, der sich vom Namen des Ende des 8. Jahrhunderts geborenen arabischen Mathematikers al-Chwarizmi ableitet, wird die Abfolge klar festgelegter Einzelschritte zur Lösung eines Problems beschrieben, wobei die Einzelschritte hierarchisch angeordnet sind und auf starren Regeln beruhen.

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Pasquinelli zufolge besitzt das algorithmische Verfahren seinen Ursprung allerdings nicht im abstrakten Denken von Mathematikern, sondern in den Prozessen der Arbeitsteilung und -organisation. Seiner Ansicht nach lässt sich der Zusammenhang bereits für die Frühgeschichte mathematischer Methoden nachweisen, die sich nicht zuletzt mit der Verwaltungspraxis mesopotamischer Herrschaft entwickelten, und wird dann in der frühkapitalistischen Gesellschaft besonders deutlich. Anhand der »Analytical Engine« des 1791 geborenen Mathematikers Charles Babbage (der als einer der Erfinder der Rechenmaschine und damit auch des Computers gilt) skizziert Pasquinelli, wie die arbeitsteiligen Herstellungsprozesse der Manufakturbetriebe das Maschinendenken prägten. Die Zerlegung frühindustrieller Arbeit in kleine, leicht kontrollierbare Einzelschritte sei das Vorbild für Babbages Entwürfe gewesen, die ihrerseits wiederum die Arbeitsprozesse noch kontrollierbarer und effizienter gestalten sollten. Oder in den Worten Pasquinellis: »Das Geheimnis von Babbages Rechenmaschine lag nicht in der Imitation von Gottes Vorhersehung, wie Babbage selbst behauptete, als vielmehr in dem alltäglichen Geschäft der Werkstätten und Fabriken, das aus kontinuierlichen Fehlschlägen und Konflikten mit den Arbeiter:innen, einschließlich des Ungehorsams seines eigenen Teams, bestand.«

Mit diesem Perspektivwechsel knüpft Pasquinelli an eine Tradition der kritischen italienischen Sozialphilosophie an, nämlich dem »Operaismus«, der ab den 1960er Jahren um eine radikale Arbeiterperspektive bemüht war und sich in diesem Sinne kritisch mit der fordistischen Großfabrik und der damit zusammenhängenden Arbeitsorganisation beschäftigte. Für die Operaist*innen ist Technik keine neutrale Entwicklung, sondern ein Instrument zur Kontrolle und Fremdbestimmung der Arbeiter*innen. Das Fließband ist dementsprechend nicht einfach eine effiziente Anordnung von Produktionsschritten, sondern ermöglicht es dem Fabrikeigentümer, das Arbeitstempo zentral festzulegen und die Beschäftigten an einer selbstbestimmten Gestaltung der Arbeit zu hindern. am Anders ausgedrückt: Der Operaismus begreift Maschinen immer auch als Machttechnologie.

Ganz ähnlich argumentiert nun auch Pasquinelli. Seiner Ansicht nach ersetzen Computer und künstliche Intelligenz die menschliche Arbeit und Kreativität keineswegs, sondern sezieren und kopieren sie, um die Kontrolle des Kapitals über die Arbeitsprozesse weiter zu intensivieren. Das ist denn auch der Grund, warum bereits im Titel des Buches von einer »Sozialgeschichte« – und eben nicht von einer Technikgeschichte – die Rede ist. Die Herausbildung der Künstlichen Intelligenz ist für Pasquinelli ganz von den Machtverhältnissen der Gesellschaft bestimmt, in der wir leben.

»Das Auge des Meisters« ist in dieser Hinsicht ein großartiges und gut recherchiertes Manifest gegen jene elitären Fantasien, die der KI gewissermaßen übernatürliche Kräfte zuzuschreiben versuchen. Das ganze Gerede von den Kreativmaschinen ist für Pasquinelli nur ein neuerlicher Versuch der bürgerlichen Moderne, ihre sozialen Verhältnisse zu verschleiern. Sehr verdient hat der Italiener für diese Arbeit den im englischen Sprachraum wichtigen Deutscher-Prize für kritische Theorie gewonnen. Es ist bemerkenswert, dass der kleine Unrast-Verlag aus Münster dieses wichtige Buch in seiner Reihe über Künstliche Intelligenz herausgeben konnte. Zu wünschen wäre allerdings, dass die Theoriebücher etwas genauer lektoriert würden. Denn gerade bei einem komplexen philosophischen Text wie »Das Auge des Meisters« erschweren bereits kleine Lektoratsmängel das Verständnis ganzer Passagen.  

Matteo Pasquinelli: Das Auge des Meisters. Eine Sozialgeschichte Künstlicher Intelligenz. A. d. Engl. v. Karina Hermes. Unrast-Verlag, 288 S., br., 22 €.

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