Die Krise der Streitschlichter
Die OSZE ist ein wichtiger Raum für sicherheitspolitischen Dialog und braucht einen Neustart
Hamburger Krabben- und Holsteiner Kartoffelsuppe, Aalrauchmatjes und Ostseelachsfilet, Rote Grütze und Franzbrötchen: Regionale Spezialitäten bestimmen den Speiseplan der von 13 000 Sicherheitskräften bewachten 1700 Delegationsteilnehmer auf der Hamburger Jahrestagung der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa. Ob die politische Agenda allen 57 Mitgliedsländern, darunter die USA, Kanada, die Mongolei und die Nachfolgestaaten der Sowjetunion, schmeckt, muss sich in den zweitägigen Debatten noch zeigen. Die Bemühungen der OSZE zur Lösung des Konflikts in der Ukraine, der Kampf gegen den internationalen Terrorismus, Konfliktprävention wie -nachsorge generell, der Schutz von Minderheitsrechten, demokratischen Wahlen, freien Medien oder der vom Gastgeber und amtierenden OSZE-Vorsitzenden Frank-Walter Steinmeier angeregte Neustart der Rüstungskontrolle - Stoff für Kontroversen gibt es genügend. Bis hin zur Frage, welchen Sinn diese Organisation mit Sitz in Wien überhaupt noch hat.
Mit der KSZE-Schlussakte von Helsinki (1975), der Charta von Paris (1990), der Europäischen Sicherheitscharta von Istanbul (1999) und der Gipfelerklärung von Astana für eine Sicherheitsgemeinschaft (2010) hat die OSZE die vertraglichen Grundlagen für ein System politischer Verpflichtungen geschaffen, um ein weit gefasstes Sicherheitsverständnis durchzusetzen. In der Sprache der OSZE geht es um »drei Dimensionen«: die politisch-militärische, die wirtschaftlich-ökologische und die humanitäre. Die OSZE setzt dabei vor allem auf Vor-Ort-Missionen und Länderbüros als »sachnahes Instrument der Konfliktprävention und -bewältigung«.
Der Weg des Dialogs
Die Organisation unterhält gegenwärtig 16 solcher Feldmissionen von A wie Albanien und Armenien bis U wie Ukraine und Usbekistan. Wenn knapp 3000 der fast 3500 OSZE-Mitarbeiter in Südost- und Osteuropa, im Südkaukasus und in Zentralasien arbeiten, zeigt das die regionalen Schwerpunkte, lässt aber auch die Probleme ahnen. Denn bei der Umsetzung ihrer hehren Ziele weckt die OSZE doch erhebliche Zweifel an der Wirkungskraft der viel beschworenen Dialogformate, wie unlängst beim informellen Gipfel von 40 Außenministern in Potsdam. In Sachen Ukraine-Konflikt kam man keinen Schritt voran. Und der OSZE-Sonderbeauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler, rechnet auch in Hamburg nicht mit einem Durchbruch, wie er am Vorabend erklärte.
Doch sieht OSZE-Experte Wolfgang Zellner, Vize-Direktor des Hamburger Instituts für Friedensforschung und Sicherheitspolitik, bei aller Kritik an fehlenden operativen wie rechtlichen Voraussetzungen und Führungsstrukturen für wirksamere Peacekeeping-Einsätze auch mit Hilfe von Streitkräften keine Alternative zum Dialog »als Instrument der Krisenbewältigung«. Vertauensbildung und Sicherheit sind zwei Seiten einer Medaille. Das gilt auch mit Blick auf Russland, das wegen der Krim-Annexion am Pranger steht. Wolfgang Gehrcke, Vize-Vorsitzender der linken Bundestagsfraktion, begrüßt gemeinsame Sicherheitsinitiativen mit Moskau, um eine neue Rüstungsspirale zu verhindern. Nur verlange das auch vom Westen konkrete Taten wie etwa eine Vereinbarung über den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland oder den Verzicht auf das NATO-Raketenabwehrsystem in Polen. Für den Moskauer Abrüstungsexperten Dmitri Suslow ist klar: Wird das Problem der Expansion der westlichen Einflusssphäre gelöst, kann Moskau auch »eine neue Art der Rüstungskontrolle einführen«.
Auf Augenhöhe
Steinmeiers Glaubwürdigkeit werde allerdings nicht gestärkt, wenn er zugleich auf neue Sanktionen gegen Russland setzt, meint Gehrcke. So gesehen sei die Zeit des deutschen OSZE-Vorsitzes größtenteils verspielt worden. Andere Kritiker werfen der OSZE vor, mit ihrem »Border Management« nicht nur Terrorismus und organisierte Kriminalität zu bekämpfen, sondern auch Hilfsbedürftige massiv daran zu hindern, die Grenzen nach Europa zu überqueren. Gerade hat »Reporter ohne Grenzen« die Mitgliedstaaten dringend aufgefordert, ihre nationalen Eitelkeiten zurückzustellen und im Dienste der Pressefreiheit endlich einen Nachfolger für die Medienbeauftragte Dunja Mijatovic zu finden. Mit einem Budget von rund 141 Millionen Euro bleibt die OSZE zudem dramatisch unterfinanziert. Die Liste der Probleme ließe sich leicht fortsetzen.
Trotzdem: Die Organisation ist das einzige gesamteuropäische Forum für einen sicherheitspolitischen Dialog auf staatlicher Ebene und gleicher Augenhöhe, zumal die USA als Global Player mit am Tisch sitzen. Und noch nie war die Lage auf dem Kontinent nach Ende des Kalten Kriegs so unsicher wie zur Zeit, selbst der in der KSZE-Schlussakte von Helsinki verankerte Grundsatz der Unverletzlichkeit von Grenzen ist in Frage gestellt. Gäbe es die OSZE nicht, man müsste sie erfinden, um einen Raum gemeinsamer Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok zu schaffen. Nur gilt auch für diese im Konsensprinzip agierende Organisation: Sie kann nur so wirksam und nachhaltig arbeiten, wie es vor allem die großen Mitgliedstaaten mit ihren geostrategischen Interessen zulassen.
Der einstige Bundesaußenminister Hans-Dietrich Genscher jedenfalls war sich zum Auftakt der deutschen OSZE-Vorsitzes sicher: Der Westen habe nach dem Fall der Mauer mit seiner Fokussierung auf die Osterweiterung von NATO wie EU und seinem Desinteresse an der OSZE einen großen Fehler gemacht. Deshalb müsse diese wiederbelebt werden - unter Mitwirkung Russlands.
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