»Ein Verlust für die Gesellschaft«
Rudi Tarneden über Kinder, die zurückgelassen werden, und den Kampf für ihre Rechte
UNICEF wurde gegründet, um Kindern nach dem Zweiten Weltkrieg zu helfen. 70 Jahre später bestimmt Krieg erneut das Weltgeschehen. Ist die Arbeit des Kinderhilfswerks heute dieselbe wie damals?
In der Gründungszeit nach dem Zweiten Weltkrieg ging es schwerpunktmäßig darum, nach den furchtbaren Verbrechen Menschenrechten und zivilisatorischen Standards überhaupt wieder Geltung zu verschaffen. Die Aussage: »Kinder brauchen Hilfe, egal ob es die eigenen oder die Kinder der Feinde sind« war damals durchaus mutig und nicht selbstverständlich. Sie hat dazu geführt, dass auch in Deutschland die Kinder der ehemaligen Feinde Unterstützung gefunden haben. Danach ist UNICEF eine Organisation geworden, die versucht hat, langfristig Entwicklungsprozesse für Kinder voran zu treiben, beispielsweise die Kindersterblichkeit zu verringern und Kinder in die Schule zu bringen. Trotzdem ist UNICEF parallel immer auch Nothilfeorganisation gewesen und hat eigentlich in allen Kriegs- und Krisengebieten gearbeitet. Heute führen wir jedes Jahr rund 300 Nothilfeeinsätze weltweit durch. Wir haben heute auch mehr technische Möglichkeiten. Durch Handys und Internet lässt sich viel schneller bestimmen, wo in einem Krisengebiet welche Kinder besonders dringend Hilfe brauchen. Wir beobachten aber auch, dass Kinderrechte in Konflikten noch immer mit Füßen getreten werden. In Syrien leben 500 000 Kinder in belagerten Städten. Im Sudan und anderen afrikanischen Ländern werden Kinder gezielt als Soldaten rekrutiert. Die Aufgabe, die Rechte von Kindern in Konflikten zu schützen, ist heute drängender denn je.
Ist langfristige Entwicklungshilfe angesichts solcher Krisen wie dem Syrien-Konflikt überhaupt auf der Tagesordnung?
In einem Land wie Syrien ist das schwer vorstellbar. Andererseits dauert dieser Konflikt mittlerweile fast sechs Jahre. Die Aufgabe von UNICEF und anderen NGOs ist es daher, große Bevölkerungsgruppen über einen sehr langen Zeitraum zu stabilisieren. Wenn wir von Nothilfe sprechen, ist damit normalerweise ein singuläres Ereignis gemeint, ein Sturm oder eine Überschwemmung. Dann wird geholfen und nach einer gewissen Zeit kehrt wieder Normalität ein. Das ist in Syrien nicht der Fall. Deshalb sind die Hilfsprogramme von UNICEF dort mittelfristig angelegt und keine reine Nothilfe. Das sind zum Beispiel Bildungsprojekte für hunderttausende Kinder. International zeichnet sich ab, dass eine Verschränkung zwischen Nothilfe, mittelfristiger und langfristiger Arbeit passieren muss und auch in einigen Ländern schon passiert.
Rudi Tarneden ist Pressesprecher von UNICEF Deutschland. Zum 70. Jahrestag des Kinderhilfswerks der Vereinten Nationen spricht er über neue Herausforderungen für Hilfsorganisationen angesichts von humanitären Katastrophen durch Kriege und Konflikte. Er fordert eine Verschränkung von Not- und langfristiger Entwicklungshilfe. Mit ihm sprach nd-Redakteurin Josephine Schulz.
Die Höhe der deutschen Entwicklungshilfe wird oft als zu gering kritisiert. Gleichzeitig gibt es die Kritik - beispielsweise von Autoren des Bonner Aufrufs - dass die Gleichung »mehr Geld = mehr Entwicklung« nicht aufgeht. Wie beurteilen Sie das mit Blick auf UNICEF?
Zum einen bereitet uns Sorgen, dass gegenwärtig ein sehr hoher Anteil der internationalen Regierungsgelder in Nothilfemaßnahmen geht. Das ist wahrscheinlich notwendig, um Schlimmeres zu verhindern. Aber das ist auch vergleichsweise teure Hilfe. Wir halten es für dringend notwendig, dass die Länder, in denen es Kindern nicht gut geht, befähigt werden, mittel- und langfristig die Situation zu verbessern. Grundsätzlich würde ich sagen: Geld alleine löst Probleme nicht. Aber ohne ausreichende Finanzierung geht es auch nicht. Die Entwicklungshilfe ist immer nur so gut, wie die Menschen oder Regierungen, die sie umsetzen. Ein großer Teil der Arbeit von UNICEF besteht deshalb - anders als früher - darin, die Partner in Regierungen, in Verwaltungen und lokalen NGOs so zu schulen und zu befähigen, dass sie die Situation für Kinder langfristig verbessern.
Benachteiligte Kinder leben heute nicht nur im Süden. Auch in wohlhabenderen Ländern haben viele keine echten Chancen, ihr Leben so zu gestalten, wie sie das möchten.
Mit den Augen von Menschen aus dem südlichen Afrika betrachtet, leben wir in Mitteleuropa noch immer auf einer Insel unfassbaren Wohlstands. Auf der anderen Seite leben heute aber die meisten sehr armen Kinder in Ländern mit mittleren Einkommen, in sogenannten Schwellenländern. Und auch hierzulande haben wir viele Kinder, die eine ganze Menge Probleme haben, die vielleicht nicht verhungern, aber Gefahr laufen, von der Gesellschaft ausgeschlossen zu werden. Deswegen muss die Arbeit für Kinderrechte heute auch politischer werden. Man muss das Bewusstsein und die Verantwortung in Städten, Gemeinden und bei den Regierungen beeinflussen, mehr für die Kinder zu tun, die es am schwersten haben und gleiche Chancen zu schaffen. Denn Kinder, die man zurücklässt, sind ein Verlust für die ganze Gesellschaft.
UNICEF fordert, Kinderrechte im Grundgesetz festzuschreiben. Inwiefern fehlt es in Deutschland an rechtlichem Schutz für Kinder?
Deutschland hat im internationalen Vergleich vorbildliche Gesetze und Maßnahmen für Kinder, das muss man sehen. Das heißt nicht, dass es hier allen Kindern gut geht und alle in Sicherheit sind. Auch in Deutschland gibt es Gewalt in Familien. Und zehntausende Flüchtlingskinder leben weiter in Turnhallen. Das zeigt, dass der Einsatz für benachteiligte Kinder eine permanente Aufgabe ist. Kinderrechte im Grundgesetz wären ein Bekenntnis zu dieser Verantwortung. Aber dies hätte auch praktische Konsequenzen für das Verwaltungshandeln. Wenn beispielsweise Entscheidungen über soziale Unterstützung getroffen werden, muss überprüft werden, ob sie dem Wohl von Kindern schaden, nützen oder neutral sind. Diese Bewertung würde der Politik in viel stärkerem Maße als heute abverlangt. Das würde die Welt vielleicht nicht sofort verändern, könnte aber langfristig einen Schritt in die richtige Richtung auslösen.
Angesichts der Notlage in Syrien ruft UNICEF verstärkt zum Spenden auf. 2008 war in den Medien von einem Spendenskandal im Verein die Rede. Wirkt sich dieser Vertrauensverlust noch auf die Arbeit aus?
UNICEF Deutschland hatte vor jetzt fast zehn Jahren einen Führungsstreit, der in der Öffentlichkeit viel Aufsehen erregt hat. Die Kritik, die damals geübt worden ist, haben wir sehr ernst genommen. Wichtig ist, es sind damals keine Mittel falsch verwendet worden, wie oft gesagt wird. Wir haben intensiv für Transparenz gesorgt und sind dafür auch ausgezeichnet worden. Wir sehen, dass wir in Deutschland große Unterstützung durch die Bevölkerung bekommen, die Bundesbürger sind mit eine der wichtigsten Stützen der weltweiten UNICEF-Arbeit. Insofern sind wir zuversichtlich, dass wir auch im kommenden Jahr weltweit sehr vielen Kindern helfen können.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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