Boliviens abgekühlte Liebe

Die sozialistische Regierung von Evo Morales wird zunehmend kritisch gesehen

  • Thomas Guthmann, La Paz
  • Lesedauer: 7 Min.

Es ist eine schwüle Nacht auf dem Messegelände in der bolivianischen Industriemetropole Santa Cruz. An allen Ecken posieren junge Frauen in knapper Kleidung vor Autos, Wurstwaren oder alkoholischen Getränken. Immer wieder stellen sich Besucher der Messe zu den »schönsten Frauen Boliviens«, wie es im Werbetext heißt, um ein Erinnerungs-Selfie zu machen. Die Expocruz ist die größte internationale Messe in Bolivien. Es ist auch eine Besuchermesse, auf der die Cruzeños Abends flanieren, dinieren und sich vergnügen. Die bolivianische Regierung hat auf der Messe ihren eigenen Pavillon. Dort steht ein schwarzer Quader, auf dem im gelbroten Schriftzug des Hollywood-Klassikers »Zurück in die Zukunft« geschrieben steht: »Hast du Lust in die Vergangenheit zurückzukehren?«

Wer den schwarzen Quader betritt, begibt sich auf eine zweiminütige Reise durch die jüngere Geschichte Boliviens. 3D-Brillen sorgen dafür, dass das Animationsvideo aufgepeppt wird, und hydraulisch bewegliche Stuhlreihen sollen die Reise sinnlich erfahrbar machen. Während man so durchgerüttelt durch eine animierte Landschaft gondelt, erläutert die Sprecherstimme aus dem Off die Erfolge der Regierung Morales: 2005 hatten nur 69 Prozent der Bolivianer Trinkwasser, 2016 sind es dem Sprecher zufolge 85 Prozent, die Gasversorgung verbesserte sich von 48 000 auf 590 000 Anschlüsse, La Paz hat mit dem Teleférico, einer Seilbahn, die den Regierungssitz mit der Nachbarstadt El Alto verbindet, ein neues Nahverkehrssystem bekommen und für Santa Cruz ist der Bau einer S-Bahn geplant.

Überhaupt hat sich die Verkehrsinfrastruktur wesentlich verbessert. Gab es 2005 885 Kilometer asphaltierte Straßen, waren es in diesem Jahr über 5000 Kilometer geteerte Verkehrswege. Zugleich hat sich die Anzahl der Fluggäste in der Regierungszeit von Evo Morales verdreifacht. Die Liste verlängert sich in den zwei Minuten um weitere Fakten wie die Vervierfachung des Mindestlohns, die Verbesserung der Gesundheitsversorgung und den Besuch von Papst Franziskus in Bolivien. »Seit 2005 haben wir viel erreicht«, resümiert die Off-Stimme am Ende der Reise, »und gemeinsam werden wir auf diesem Weg fortschreiten.«

Romel Salazar, der etwas zerknautscht aus dem Quader steigt, schmunzelt und schüttelt den Kopf. Der Ingenieur für Bewässerungstechnik ist viel im Land unterwegs und meint: »Das ist eine Fantasie der Regierung, dass wir uns einem entwickelten Land annähern.« Romel Salazar gehört in Bolivien zu den Besserverdienenden. Er arbeitet selbstständig und kommt im Schnitt auf über 1000 US-Dollar im Monat. Große Sprünge kann er mit seiner vierköpfigen Familie dennoch nicht machen. Denn in den vergangenen Jahren haben sich nicht nur die Löhne erhöht, sondern sind auch die Lebenshaltungskosten gestiegen. Es ist nicht so, dass der Ingenieur die Erfolge der Regierung nicht anerkennt. Aber ob er gemeinsam mit Morales Regierung voranschreiten möchte? Er ist unsicher und zuckt mit den Schultern.

Das Werben um die Gunst der Bolivianer ist deutlich mühsamer geworden. Bevölkerung und Regierung haben sich nach zehn Jahren, so scheint es, auseinandergelebt. Die Entfremdung zwischen Souverän und Exekutive spürt man auch am Regierungssitz La Paz.

Ariadna Soto war zu Beginn der Regierungszeit von Evo Morales ein Fan: »Ich erinnere mich noch gut an die Feierlichkeiten, als Morales die Präsidenteninsignien überreicht bekam. Es war für mich ein bewegender Moment, meine Erwartungen waren riesig«, meint die gelernte Juristin. Zu Beginn war sie überzeugte Anhängerin des Prozesses, arbeitete im Justizministerium und engagierte sich für den Wandel. Die neue Verfassung, die 2009 verabschiedet wurde, die Einrichtung von Abteilungen zur Depatriarchalisierung und zur Dekolonisierung im Kulturministerium waren für Soto Schritte in die richtige Richtung. »Ich glaube, zu Beginn hatte die Regierungspartei MAS (Bewegung zum Sozialismus) eine viel revolutionärere Ausrichtung, und es gab viel mehr Mitglieder, die das Land verändern wollten als heute, die MAS von heute ist eine andere Partei.« Die Euphorie ist bei der Juristin verflogen. »Heute sind viele Ideen des Wandels nur noch rhetorisch in Sonntagsreden präsent und werden eher außerhalb von Bolivien diskutiert als im Land selbst.«

Die Veränderung innerhalb der MAS und der Regierung nach den ersten vier Jahren hat auch damit zu tun, dass die Wahlerfolge Opportunisten und Karrieristen angelockt haben. Da die MAS nicht genug eigenes Personal hatte, fanden diese schnell ihren Platz in der Partei. Das hat dazu geführt, dass ein Teil des Parteiapparats kein Interesse am Cambio, dem Wandel, hatte, meint Felix Gutierrez.

Der Ingenieur gehört der Volksgruppe der Aymara an. Er arbeitet in einer kleinen Nichtregierungsorganisation, dem Red Apachita, in den Provinzen Aroma und Omasuyus. Hier leben hauptsächlich Aymara. Red Apachita betreibt eine Radiostation, engagiert sich in der Gesundheitsvorsorge und der Ernährungssicherheit. Auch Felix Gutierrez setzte anfangs große Hoffnungen in den ersten indigenen Präsidenten Lateinamerikas. Aber obwohl Red Apachita auf dem Land genau die Arbeit macht, die zum von der Regierung propagierten Wandel beiträgt, hat die Basisorganisation bis jetzt kaum Unterstützung von der Regierung bekommen. »Wir bekommen hier und da ein paar Bolivianos, wenn wir die Kampagnen der Regierung auf dem Land bewerben«, meint der Ingenieur. Richtige Unterstützung zur ländlichen Entwicklung, so Gutierrez, hat es von staatlicher Seite aber nie gegeben: »Das Geld landet bei den Funktionären der MAS und den Repräsentanten der indigenen Organisationen, die der MAS nahestehen.«

Dabei wäre ein Programm zur Entwicklung des ländlichen Raums dringend von Nöten, fährt Gutierrez fort. Die Lage in den Gemeinden sei dramatisch. Vor allem junge Leute zögen in die großen Städte. Zurück blieben die Alten, denen es oftmals an Gesundheitsversorgung, Strom und Zugang zu sauberem Wasser fehle. »Wenn man die Statistiken betrachtet, hat die Regierung viele Erfolge erzielt und z. B. die Anzahl der Bolivianer, die in extremer Armut lebt, drastisch reduziert«, meint Gutierrez. »Dieser Trend spiegelt sich aber leider nicht in unseren Gemeinden wieder. Hier gibt es weiter Armut und kaum Perspektiven auf Änderung.«

Die MAS glaubt bisher, auf dem Land weiterhin die Leute hinter sich zu haben. Laut Gutierrez ist das aber nicht mehr so. Zwar bleibt der Präsident, Bruder Evo, wie er von den Aymara oft genannt wird, eine Ikone, die Partei MAS und die lokalen Funktionäre sind aber nicht mehr wohlgelitten. »Wann immer die MAS-Partei auftaucht, winken die Gemeinden inzwischen ab. Viele wollen mit der Partei nichts mehr zu tun haben«, so Gutierrez.

Wie sehr die Partei MAS im bolivianischen Establishment angekommen ist, das seit jeher die öffentlichen Kassen als Selbstbedienungsladen betrachtet, zeigt der Skandal um den Indigenen Fonds. Eigens eingerichtet für Projekte in indigenen Gebieten, um die Lebensbedingungen zu verbessern oder die Selbstverwaltung indigener Gruppen zu stärken, wurde er schnell zu einer lukrativen Einkommensquelle für korrupte Funktionäre. Vergangenes Jahr wurden schätzungsweise bei 1000 Projekten Unregelmäßigkeiten festgestellt, einige waren gar nur auf dem Papier existent. Zunächst versuchte Evo Morales noch, die Sache herunterzuspielen, und sprach von einem Verlust von »zwei Milliönchen« US-Dollar. Erst als die Betrügereien zu offensichtlich wurden, gab es Verhaftungen von Funktionären. Im August dieses Jahres schließlich ließ Morales seine enge Vertraute Nemesia Achacollo, die den Fonds leitete, fallen.

Die Regierung entfernt sich zunehmend von der Idee einer alternativen Entwicklung des Landes. Schlagwörter wie kommunitäre Ökonomie oder »Vivir Bien« werden sukzessive durch eine Modernisierungsrhetorik ersetzt, die davon spricht, Bolivien in das energetische Herz Südamerikas zu verwandeln. Strom aus Erdgas, Wasserkraftwerken, Windkraft und möglicherweise auch aus Atomkraft, soll in Zukunft den ganzen Kontinent mit Energie versorgen. Im Mai schloss die Regierung mit dem Multi Siemens einen Vertrag ab. Der Münchner Konzern liefert Turbinen für drei Gaskraftwerke, die den wichtigen Rohstoff in Strom verwandeln. Insgesamt sollen die Anlagen Warnes, Entre Rios und Sur in Zukunft 1440 Megawatt produzieren. Der Strom soll nach Argentinien und Brasilien exportiert werden.

Ob das Konzept aufgeht und ob Morales damit Erfolg bei den Wählern hat, bleibt ungewiss. Ob es eine Wiederwahlmöglichkeit gibt, ebenfalls. Felix Gutierrez jedenfalls ist überzeugt, dass die Partei MAS auf dem Land viele Sympathien eingebüßt hat.

Und in der Stadt? In den Cafés und auf den Märkten wird das Regierungshandeln kontrovers und sehr kritisch diskutiert. Geliebt wird die Regierung nicht mehr, aber Morales und die MAS haben eines geschafft: Sie haben dem vergangenen Jahrzehnt politische und wirtschaftliche Stabilität gebracht. Das ist momentan sicherlich das stärkste Argument für eine Fortsetzung der Regierung Morales nach 2019.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.