Die rote Linie überschritten
NSU-Ausschuss zog Zwischenbilanz - Untersuchungen förderten eher weitere Fragen zutage
Der Potsdamer Untersuchungsausschuss wollte eine Zwischenbilanz seiner Arbeit ziehen. Das Ausschuss soll klären, ob der Brandenburger Verfassungsschutz eine frühzeitige Entdeckung des NSU-Trios verhindert hat, weil die Behörde den V-Mann »Piatto« schützen wollte. Zu den Ergebnissen bei der Aufarbeitung der NSU-Morde wurden die jeweiligen Ausschussvorsitzenden Clemens Binninger (Bundestag), Dorothea Marx (Thüringen), Patrick Schreiber (Sachsen) und Sven Wolf (Nordrhein-Westfalen) angehört.
Die Befragung offenbarte, wie unglaublich gering der Umfang der bislang gewonnenen Erkenntnisse ist. Und das, obwohl die Untersuchungsausschüsse von drei Landtagen und dem des Bundestages ihren Brandenburger Kollegen eine mehrjährige Ermittlungstätigkeit voraus hatten.
Der Chef des Bundestags-Untersuchungsausschusses, Clemens Binninger (CDU), suchte nach Worten für die unfassbare Folge von Ermittlungspannen, die das verbrecherische Wirken des NSU-Trios aber auch die nachfolgende Ausforschung und Ermittlung jahrzehntelang begleitet hatten. Ihm sei wichtig gewesen: Die Untersuchung habe nicht in erster Linie der Skandalisierung dienen wollen, »obwohl manches ein Skandal war«. Er sprach von einem »multiplen Versagen« aller Beteiligten - Verfassungsschutzbehörden, Staatsanwaltschaften »bis hin zum Generalbundesanwaltschaft«, Polizei aber auch der parlamentarischen Kontrolle. »Es gab nicht die eine schuldige Behörde«, sagte er. Die permanent falsche Schwerpunktsetzung sei nur aus diesem Zusammenspiel zu erklären, seine Bewertung gar nicht.
Beim Führen von V-Leuten in der rechtsextremen Szene stünden laut Binninger der Aufwand und der Ertrag an Erkenntnissen für die Geheimdienstbehörden »in keinem Verhältnis zum Risiko, das man mit diesen Leuten eingegangen ist«. Hier habe der Rechtsstaat »eine rote Linie überschritten«. Dennoch sei die Arbeit mit V-Leuten notwendig, da es kriminelle Milieus gebe, »die so abgeschottet sind, dass Behörden ansonsten keine Informationen bekommen« würden. Die Aussageverweigerung von Verfassungsschutzbehörden unter Verweis auf Quellenschutz könne aber nicht mehr überzeugen, wenn es gelte, eine Mordserie mit zehn Opfern aufzuklären.
Den brandenburgischen Ausschussmitgliedern gab Binninger mit auf den Weg, sie sollten sich um die Anwerbung des märkischen V-Manns »Piatto« kümmern. Der Mann habe sich von selbst der Verfassungsschutzbehörde angedient und sei noch im Gefängnis als V-Mann angeworben worden. Im Raume stehe die Frage, warum die Postkontrolle in seinem Fall zeitweilig gelockert worden sei und weshalb ihm nach der Haftentlassung eine positive Resozialisierung bescheinigt worden sei, obwohl wesentliche Umstände dagegengesprochen hätten. Und vor allem: »Welche Informationen kamen von ›Piatto‹?« Ungeklärt sei, weshalb das mörderische NSU-Trio nicht gestoppt werden konnte, obwohl doch ein so großer Personenkreis innerhalb der angezapften rechtsextremen Szene genaue Kenntnisse besaß und mit hoher Wahrscheinlichkeit in die Beschaffung von Waffen für die Verbrecher verwickelt gewesen sei.
Angesichts der Tatsache, dass trotz intensiver Fahndung sogar weitere Morde begangen wurden, stellte Binninger die Frage: »Handelte es sich beim NSU wirklich nur um ein Trio?«
Er erinnerte daran, dass zu den Mordopfern des NSU neben acht türkischstämmigen Menschen und einem Griechen auch die Polizistin Michelle Kiesewetter gehörte. Binninger stellte in Zweifel, dass der Tod der Beamtin ein »Zufallsopfer« war. Nur ein einziger Verfassungsschutz-Mitarbeiter habe sich von sich aus bei ihm gemeldet und berichtet, sagte Binninger. Derartige Schwierigkeiten, Behörden wie den Bundesverfassungsschutz zur Mitwirkung an der Aufklärung zu bewegen, bestätigte auch der Abgeordnete Sven Wolf (Nordrhein-Westfalen).
Für die SPD-Landtagsabgeordnete Dorothea Marx (Thüringen) bleibt es ein Rätsel, warum nicht effektiv gehandelt worden sei, nachdem Angaben des V-Manns »Piatto« zum Verbleib des Trios nach Thüringen übermittelt worden waren. Das damals offenkundig gewordene Streben der drei 1998 Untergetauchten nach Waffen hätte Ermittlungen des Bundeskriminalamtes auslösen müssen. Doch selbst den Landeskriminalämtern seien Informationen vorenthalten worden, die ansonsten mit hoher Wahrscheinlichkeit zu einer frühzeitige Ergreifung der untergetauchten Verbrecher geführt hätten.
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