Sauerkrautfaktor & Rechtsregulat

Wie Kalk in die Hirne von Pharma-Werbestrategen und Medizinexperten rieselt. Von Silvia Ottow

  • Silvia Ottow
  • Lesedauer: 6 Min.

Hatten Sie erst kürzlich eine Grippe? Husten? Schnupfen? Heiserkeit? Das ist Pech. Oder Dummheit, wenn man den Werbestrategen von Dr. Niedermaier Pharma glaubt. Die haben herausgefunden, wie man Viren und Bakterien durch Schnelligkeit überlisten kann. »Laufen Sie der nächsten Grippewelle einfach davon«, schreiben sie locker-flockig in ihrer Werbung, als hätten sie kleine Kinder als Konsumenten vor sich. Natürlich muss niemand wirklich laufen. Es reicht, etwas zu schlucken, was man zuvor gekauft hat. Und zwar den »biologischen Immunregulator Rechtsregulat® Bio mit natürlichem Vitamin C«, der »boostet Ihr Immunsystem«. Früher hätte man vielleicht gesagt, das Immunsystem wird gestärkt. Aber das versteht heute kein Mensch mehr.

Pharmachefin Cordula Niedermaier-May vertraut da eher auf die Wirkung eines pseudowissenschaftlichen Sprachmixes, um ihre »Biokonzentrate« anzupreisen. Sie sollen die Fähigkeit besitzen, das oxidative Redoxpotenzial in jeder Zelle auf den Sollzustand zu bringen. Wie bitte? Redox bezeichnet die Kombination von Oxidation und Reduktion, so viel kann man im Chemiebuch nachlesen. Das oxidative Oxidations- und Reduktionspotenzial ist demzufolge doppelt gemoppelter Sprachmüll, der zu verschleiern sucht, dass dieses Präparat von wissenschaftlichen Erkenntnissen etwa so weit entfernt ist wie die Bushaltestelle im brandenburgischen Pirschen-Pickel vom Kosmonautenbahnhof im kasachischen Baikonur.

Und damit nicht genug, neben dem Sprachmüll haben wir es hier offenbar auch mit Medizinmüll zu tun. Im Akutfall empfiehlt Cordula Niedermaier-May täglich 20 Milliliter des ultimativen Präparates, aber besser wäre es selbstverständlich, es einfach immer und überall zu sich zu nehmen. Es kann nicht weiter schaden, da außer sonnengereiften Früchten, Nüssen und Gemüse aus ökologischem Anbau nichts weiter drin ist. Könnte man das vielleicht einfach auch frisch vom Feld essen? Das können nur Ignoranten fragen. Natürlich nicht, denn Frau Cordula und ihre fleißigen Helfershelfer haben das alles noch einmal in rechtsdrehender Milchsäure aufgeschäumt, Verzeihung: gelöst. Auch bei der Milchsäure kann man nicht einfach irgendeine nehmen. Sie muss schon bei einer vorausgegangenen Kaskadenfermentation entstanden sein. Am besten unter akustischer Begleitung von Beethovens Neunter Sinfonie im Hintergrund. Das Ergebnis ist jedenfalls ein »feinmolekulares und sofort bioverfügbares Biokonzentrat«. Da ist sie schon wieder, die Kaskadensprache. Je öfter Bio darin vorkommt, umso besser.

Bleiben wir noch ein wenig bei dieser Fermentation, die derzeit in aller Munde ist. Hinter dem geheimnisvoll und wichtig klingenden Fremdwort verbirgt sich nichts weiter als etwas so Vulgäres und Stinkendes wie das Sauerwerden oder Vergären. Wem das zu unattraktiv klingt, der kann das Ganze auch Umwandlung organischer Stoffe in Säure, Gase oder Alkohol nennen. Es mieft, aber es wirkt. »Stars wie Miranda Kerr und Gwyneth Paltrow schwören schon lange auf ihre persönlichen fermentierten Beauty Tricks von innen wie zum Beispiel Essig«, heißt es in einer Werbeschrift. Oha, sie fermentieren selbst und machen dabei nicht einmal vor den Tricks halt! Wahrscheinlich fermentieren sie auch Waschpulver, Fernsehapparate und die Luft um sich herum. »Das Zauberwort Fermentation vereint so einigen Magic-Faktor in sich«, heißt es schwärmerisch ein paar Zeilen weiter im Text. Oh ja, das ist dieser unwiderstehliche Sauerkrautfaktor! Und diese Sucht nach »eher uncharmant duftenden Snacks«, was so viel heißen soll wie stinkende Nahrung. Soll gut sein gegen Akne, trockene und fahle Haut, Magen-Darm-Probleme und oxidativen Stress. Dreimal dürfen Sie raten, wer das schnöde Sauerkraut beautysalonfähig gemacht hat. Richtig. Die Firma Niedermaier, Spezialistin für »Kaskadenfermentation«, den sogenannten »Königsweg« der Fermentation. Sein Resultat: unaussprechliche, aber patentierte Kaskadenfermentationsregulatessenzen. Sie fördern die Selbstheilungskräfte, kurbeln den Stoffwechsel an, stärken das Immunsystem, bringen Magen und Darm in Balance, hellen die Stimmung auf und machen, dass der Regen bei Bedarf von unten nach oben fällt. 350 Milliliter Rechtsregulat® Bio und Regulatpro® Metabolic kosten je 48,90 Euro. In Apotheken, Reformhäusern und Arztpraxen erhältlich und unverzichtbar, wenn man innerhalb von 20 Tagen makellos schön und gesund werden möchte. Wer sich diese hochmolekulare, biotechnologisch hergestellte, tiefgreifende medizinische Hyaluronsäure gepaart mit der weltweit einzigartigen Regulatessenz nicht leisten kann, versucht es mit gesundem biologischen Dünger aus dem Baumarkt, denn genau so wirkt Regulatpro Hyaluron.

Noch mehr Stimmung als durch Kaskadenfermentation entsteht nur durch Selbstberührung. Dieses einfache Rezept gegen den Novemberblues scheint tatsächlich ein wenig in Vergessenheit geraten zu sein. Kein geringerer als Haptikforscher Dr. Martin Grunwald von der Universität Leipzig hat es hervorgekramt. Wärme, Bewegung und regelmäßiger Körperkontakt machen Menschen fröhlicher, meint er. Schon eine zehnminütige Massage pro Tag kann die Stimmung deutlich aufhellen, lautet sein sensationelles Fazit. Wahnsinn! Unglaublich! »Durch Berührungsreize werden biochemische und bioelektrische Prozesse im Gehirn ausgelöst. Daraufhin werden bestimmte Hormone und Neurotransmitter ausgeschüttet, die die Hirnaktivität beeinflussen und den körperlichen Zustand positiv verändern«, erklärt der Haptik-Forscher. Die Herzfrequenz nimmt ab, die Atmung wird flacher und positive Emotionen entstehen. »Unser Tastsinnessystem wird gnadenlos unterschätzt«, da ist sich Martin Grunwald sicher. Immerhin leitet er ein Haptik-Forschungslabor, wo man sich Tag und Nacht selbst die Zehen streichelt und den Nacken krault. »Viele glauben, der Tastsinn hilft mir lediglich im Dunkeln den Wecker zu finden und spielt ansonsten nur noch bei sexuellen Handlungen eine wichtige Rolle«, so Grunwald. Aber glauben viele nicht auch, gleich hinter Leipzig beginnt eine Steppe, über der niemals die Sonne aufgeht? Der Mensch wisse ohne jede visuelle Information, wie der Körper aufgebaut ist: Beine unten, Kopf oben, staunt der Experte. Vielleicht glaubte er bisher, es sei umgekehrt. Diese Information über die Stellung des Körpers im Raum, die propriozeptive Komponente des Tastsinns, verarbeitet das Gehirn permanent. Interozeptiv, also nach innen gerichtet, liefert das Sinnessystem Informationen über bestimmte Organfunktionen wie den Herzschlag oder das Magengrummeln. Oder die Skepsis gegenüber der unbezwingbaren Untersuchungswut der vielen Forscher, die sich in und um Sachsen herum so tummeln.

Kommen wir zum Kalk. Ja, auch das ist ein Heilmittel und braucht als solches einen wohlklingenden Namen. Wie wäre es mit Holsteiner Bernstein, Friesengold oder Ostseejade? Nur der Mineraloge würde schnöde von Faserkalk oder Calciumcarbonat sprechen. Der gelbgrüne und ein wenig an Holzstrukturen erinnernde Stein findet sich vor allem im norddeutschen Geschiebe. Er entstand vor 50 Millionen Jahren durch vulkanische Aktivitäten. Genau das macht ihn spannend für die Heilscharlatane, die sich derzeit auf zahlreichen Weihnachtsmärkten an Nord- und Ostsee tummeln. Schön geschliffen präsentieren sie den Heilstein an Ketten oder in anderen Schmuckstücken. Einfach anlegen, dann stärkt oder - wie wir inzwischen gelernt haben - boostet er das Immunsystem und regt den Kreislauf an, beseitigt Schmerzen bei Nervenentzündungen durch bloßes Auflegen, festigt Knochen, Haare, Nägel und Zähne. Das alles erfährt man auf einer Heilstein-Internetseite. Wie so ein Zahn von außen gefestigt werden kann, bleibt das Geheimnis derer, die es behaupten. Wie sich die Fresszellen des menschlichen Immunsystems mit einem alten Kalkhaufen außerhalb des Körpers verständigen und dadurch zu größerer Kraft im Kampf gegen gefährliche Erreger aufschwingen sollen, werden die Steinheiligen sicherlich irgendwann herausfinden. Wenn man ihnen überhaupt etwas abnehmen will, wäre es womöglich der positive Einfluss der Ostseejade auf die emotionale Sicherheit und das Selbstvertrauen. Man hat weniger Angst mit einem Stein in der Manteltasche. Auch wenn er nur aus Kalk besteht.

Kalk scheint auch so manchem Autor bei der Interpretation der Ergebnisse seiner Untersuchungen ins Gehirn gerieselt zu sein. Je mehr Schokolade, desto weniger Diabetes, bessere Gehirnleistung und geschmeidigere Gefäße, hieß es kürzlich auf zahlreichen Nachrichtenkanälen unter Berufung auf einen Experten, der ein amerikanisches Ernährungsmagazin gelesen hatte. So oder ähnlich klingt es jedes Jahr kurz vor dem Schokoladenfest. Die Sturheit, mit der man diese »Studienergebnisse« immer wieder präsentiert, wird nur durch die Unverfrorenheit der darin enthaltenen Behauptungen übertroffen. Man könnte vermutlich auch einfach behaupten: Je mehr Schokolade, desto weniger Grips.

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