Diesmal nicht mit Seppelhose
Der Schauspieler Otto Mellies bei Gregor Gysis Gesprächsreihe am Deutschen Theater Berlin
Gregor Gysis Gesprächsreihe am Deutschen Theater Berlin hat seit Jahren ihr eigenes Bühnenbild, eine mit kalligraphischen Elementen bestückte Wand. Diesmal aber Prunk. Der purpurrote Samtvorhang. Der jede Bühne zum majestätischen Ort erhebt. Hinterm Vorhang das Meer? Arkadien? Shakespeares Illyrien? Die Enge aller Zeit oder deren Dehnung?
Das Majestätische hat Fug, wenn ein Schauspieler den Raum betritt. An diesem Sonntag: Otto Mellies. Gysi öffnet ihm einen Spalt des schweren Stoffs. Erster Applaus. Fünfzig Jahre, von 1956 an, war Mellies Protagonist auf dieser Bühne. Nach kurzen Zeiten in Schwerin, Neustrelitz, Rostock, Erfurt. Engagiert von Wolfgang Langhoff, dem Verstandesklaren; ein »wirklicher Boss, der fusselte nicht«.
Wenn ich Schauspieler sehe, sitze ich im Theater und vergesse mein Wissen - Schauspieler sind keine konzeptionellen Vollstrecker, deren Namen man bei Rezensionen unanständig karg hinter der jeweiligen Rolle zwischen zwei Klammern zwängt, und das war’s dann. Sie erst gründen das Stück - im Moment ihrer Verausgabungen. Sie sind Fleischwerdung. Sie sind Auferstehungskraft. Wahrlich: Ich sehe sie - dann erst den Dichter. Den Dichtertext hab ich zu Hause. Meine Vorstellung vom Stück auch - dort bleibt sie. Sonst schürt sie Erwartung. Erwartung ist nur scheinbar lobenswert. Wer sagen kann, was er im Theater erwartet, will etwas sehen, was er schon kennt - wie sonst könnte er dieser Erwartung Worte geben. Wir haben jene Fassungslosigkeit, haben jene Leere verlernt, die uns nicht nur bei einer Katastrophe heimsuchen sollte, sondern auch, wenn wir uns der Kunst nähern.
Otto Mellies. Sein Ton schaffte es: das klassische Überzeitliche und das jeder erdenschweren Realität Enthobene wie hingetupft zu geben. Manchmal so weich, dass Bedachtsamkeit in (leise!) tobende Komik hinübersprang. Ein Sprechmusikant hohen Grades. »Verständlichkeit ist die erste Höflichkeit gegenüber dem Publikum«, wird er unter Beifall sagen. Unvergesslich, wenn er in all den Jahrzehnten das existentielle Puderzucker-Vibrato seiner edel beherrschten Tonlage aufdrehte, atemsicher brach oder auch nur meisterhaft grummelte. Da bekam der schöne Schein Fleisch ans Bein.
Aufrecht sitzt der Heimspieler, der in wenigen Tagen 86 wird, auf »seiner« Bühne. In den Zuschauerraum hinein erzählend. Konzentriert, auch den eigenen Text bedenkend, wie er all die Zeiten fremden Text bedachte. Und der biografische Text ist erschütternd. Otto erlebt, wie ein jüdischer Nachbarsjunge von einem Lehrer mit einer Luftpumpe totgeschlagen wird. »Lehrer Schumacher!« Der Name: melliesgemäß prägnant ausgesprochen, als schlage ihn die Stimme des Schauspielers ewigkeitsfest in ein Kerbholz. Als im März 1945 eine endlose Kolonne dröhnender T-34-Panzer der Roten Armee durch den Ort rollt, »da wusste ich, Deutschland hat den Krieg verloren«. Die Russen kommen! Angst. Höllische Angst. Und Erstarrung. Nein, nicht ganz. Für eine letzte Bewegungsfreiheit reicht die Kraft: Selbstmord. Wie durch ein Wunder erwacht Otto aus einer Schwerstverletzung, ist allein im Weltall seiner Verlorenheit, er sieht seine Mutter, seine ältere Schwester und deren drei Kleinkinder tot im Blut. Erzählt’s mit dem Abstand so vieler Jahre, sagt aber nicht, wie die grausame Tat geschah. Welche Erfahrungsfolter schon an den Randzonen, da Kindheit meint, der Sprung hinüber in die Jugend sei schönste Öffnung, freieste Bewegung.
Unwillkürlicher Bogenschlag zu dem, was Gysi erst später erfragt. 1987 hatte im DT »Nathan der Weise« in der Regie von Friedo Solter Premiere. Die Titelrolle spielte Mellies, in der Nachfolge von Paul Wegener, Eduard von Winterstein und Wolfgang Heinz (herrlich, wie Mellies deren Stimm-Melodien kopiert). Dreihundertfünfundzwanzig Vorstellungen! Die Weisheit engstens verbandelt mit der Gewieftheit, das war das Neue bei Mellies. Dieser Nathan war letztlich ein tief Enttäuschter, der an der Missachtung der mühsam von ihm Zusammengeführten leidet. »In Solters Inszenierung blieb Nathan in der Euphorie der Umarmungen allein, am Rande der Bühne, keiner braucht ihn mehr.« Stille Resignation, Trauer und Verzweiflung des Juden über menschliches Versagen. Modernität! Mellies zitiert: »Was ist das für ein Gott, der für sich muss kämpfen lassen?« Die Frage, die uns täglich knechtet.
Der 1931 in Stolp (dem heutigen polnischen Slupsk) Geborene erzählt - mit Blick auf die flüchtige Art, mit der heute die Urenkel ihre Geschenke auspacken - vom Holzpferd, das er als Kind (acht Geschwister!) von Weihnachtsfest zu Weihnachtsfest geschenkt bekam, jeweils neu aufgemöbelt. Erzählt von einer kurzen Nachkriegszeit im Westen, wo die Familie aus dem Osten wie aussätzig behandelt wurde - »man aß reich belegte Brote und ließ uns fremde Kinder im Hunger stehen wie in einem Regenwetter«. Jetzt lächelt er vielsagend ins Heute hinein, »ich sage nur: Flüchtlinge.« Erzählt von der Schauspielprüfung in Schwerin bei der großen Lucie Höflich, die den kleinen Otto sah (er sprach Schillers Ferdinand) und ausrief: »Gott, ist das Bübchen süß!« Aufgetreten war er in »Seppelhose« - die trug er auch mal, als er in Rostock engagiert war. Intendant Perten untersagte, dass einer seiner Schauspieler in so einem Aufzug durch die Stadt ginge. Erzählt von Filmregisseur Peter Jackson, der sich für die deutsche Synchronfassung von »Herr der Ringe« auch für die Rolle des Saruman (Christopher Lee) zahllose Stimmproben schicken ließ und entschied: Einzig Otto Mellies komme in Betracht!
Manchmal kommt es mir vor, als »zucke« der schöne geheiligte Vorhang. Als wolle er sich heben. Vielleicht ist es auch anderen an diesem Vormittag widerfahren wie mir: Blick auf diesen einstigen Granden des Hauses, und ein unsichtbares Transparent läuft mit, wie jenes Nachrichten-Streifband, das wir vom Fernseher kennen. Nachrichten? Namen! Keller, Drinda, Grube-Deister, Böwe, Macheiner, Ritter, Düren, Schorn, Ludwig, Manzel, Hiemer, Bendokat, Körner, Tempelhof, Mann, Grashof, Wachowiak, Hentsch, Bienert, Baur, Lang, Kahler, Kleinert, Gudzuhn, Franke, Esche, Maus, Heinz, Piontek. Nostalgie? Unbedingt. Wir bleiben lebenslang geleimt an das, was uns gestattet, es immer wieder schönzufärben zu einem Neuwert.
Zum Schluss Rilke. Otto Mellies spricht. »Wer jetzt kein Haus hat, baut sich keines mehr./ Wer jetzt allein ist, wird es lange bleiben,/ wird wachen, lesen, lange Briefe schreiben/ und wird in den Alleen hin und her/ unruhig wandern, wenn die Blätter treiben.« Da blitzt das Markante wieder auf. Die Erscheinung macht Stimmung für die Stimme. Wie entzündend etwas klingen kann! Dem fühlte sich dieser Füller und Erfüller des Wohllauts an vielerlei Inszenierungsfronten kämpferisch, kunstvoll verbunden. Dank.
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