Kinder in die Nacht!

Das Atze-Musiktheater hat Erich Kästners Roman »Emil und die Detektive« als Singspiel auf die Bühne gebracht

  • Martin Hatzius
  • Lesedauer: 5 Min.

Erich Kästner war 30 und erst seit kurzem Berliner, als im Oktober 1929 sein erster Roman erschien. Das Kinderbuch »Emil und die Detektive«, von dem jungen Feuilletonisten und Gebrauchslyriker binnen weniger Wochen zu Papier gebracht (und von Walter Trier mit den noch heute berühmten Illustrationen versehen), wusste sofort zu begeistern. Die Leser, junge wie alte, sogen begierig den in der deutschen Jugendliteratur vollkommen neuen Ton in sich auf. Sie staunten über Kästners genaue Milieuschilderungen, genossen den erdigen Humor, ließen sich mitreißen von dem ungeheuerlichen Abenteuer, das in diesem Buch zu erleben war. Das Ungeheuerlichste aber war wohl die Tatsache, dass das Provinzei Emil und seine neuen Freunde aus der Großstadt, die hier einen gesuchten Kriminellen zu Fall bringen, noch grün hinter den Ohren sind. Kästner machte aus Kindern: Helden. Statt sich den Weisungen der Erwachsenen zu fügen, verfolgen sie eigene Pläne und streifen nächtens durch die Metropole.

Eltern müssten die Haare zu Berge stehen, wenn sie sich vorstellen, es seien ihre eigenen Kinder, die da auf Verbrecherjagd gehen - erst recht den Helicopter-Eltern von heute. Man weiß doch, was in den Straßen für Gefahren lauern und ist tunlichst darauf bedacht, seine Kleinen keine Minute länger aus den Augen zu lassen als nötig. Wenn Thomas Sutter, der Leiter des Weddinger Atze-Musiktheaters, die Ermutigung der Kinder, »ihr Schicksal in die eigene Hand« zu nehmen, nun als eines der wichtigsten Anliegen seiner neuen »Emil«-Inszenierung bezeichnet, dann ist das gewiss auch als Appell an die besorgten Eltern zu verstehen: Traut euren Kindern mehr zu! Bei der Premiere des Singspiels, das nach dem »Doppelten Lottchen« (2014) bereits die zweite Kästner-Produktion am Hause ist, verfolgten große und kleinere Besucher das Bühnentreiben jedenfalls gleichermaßen gebannt. Und dies, obwohl Sutter das Stück keineswegs historisch, sondern eher zeitlos interpretiert hat. Ein paar Details - wie das Mobiltelefon in der Handtasche von Emils Großmutter (schön verdattert: Nina Lorck-Schierning) und das polizeilich dokumentierte Geburtsjahr des Bankräubers Grundeis: 1973 - lassen sogar darauf schließen, dass die Geschichte in der Gegenwart spielt.

Kästners Mutmacher-Buch als Mutmacher-Stück zu inszenieren, erfordert freilich den Verzicht auf solcherlei Aktualisierungen, die allzu viel Angst einjagen könnten. Wenn der Ganove Grundeis, einschmeichelnd heimtückisch gespielt von Folke Paulsen, Berlin einmal als »Stadt der Liebe - und der Laster« preist, denkt allenfalls die Helicopter-Mutter einen Schreckmoment lang an den Breitscheidplatz. Ansonsten ist der Verbrecher, den es hier zu jagen gilt, zum Vergnügen der Zuschauer eher ein verschlagener Trottel als ein wirklicher Gefährder. Zwar kann dieser zwielichtige »Hutmann« den allein aus Neustadt nach Berlin reisenden Emil (bemüht jungenhaft: Iljá Pletner) im Zug hypnotisieren, um ihm die Euro-Noten aus der Jackentasche zu klauben, eine Waffe trägt er aber nicht.

Sutters Inszenierung lässt keinen Zweifel daran, wer die Guten sind. Und zu den Guten zählt auch das Regieteam: Statt wie bei Kästner das Kaiserdenkmal anzustreichen, sprüht Emil »Nazis raus aus Neustadt« an die Rathauswand - wofür ihm am Ende sogar die Polizei Respekt zollt. Die halbwüchsigen Detektive, bei Kästner allesamt Jungs, sind bei Sutter zur Hälfte Mädchen. Ihr Anführer Gustav, gespielt vom dunkelhäutigen Aciel Martinez Pól, ist kein Anführer mehr, sondern einer von vielen. Und der Einzige, dem alle an den Lippen hängen, weil er wirklich was zu sagen hat, ist - stumm. Für das lustvolle Spiel ist die Körpersprache des kleinen »Professors« (Mathieu Pelletier) ein Segen: Die Hälfte der Choreografie geht vermutlich auf das Konto von Gebärdencoach Lisa Moser. Der Schlusspunkt in der Reihe der sozialpädagogischen Regieeinfälle ist die Entscheidung der Jungdetektive, ihre Belohnung (immerhin 15 000 Euro) in die Wiedereröffnung des geschlossenen Neustädter Jugendclubs zu investieren.

Mit ausbleibenden Fördergeldern hat man bei Atze schließlich Erfahrung. Dass hier auf kleiner Flamme gekocht werden muss (dies aber so schmackhaft wie möglich), ist auch in der »Emil«-Inszenierung zu besichtigen: Denkbar spartanisch fällt das Bühnenbild (Jochen G. Hochfeld) aus. Aus mehr als einer mit Luken versehenen hölzernen Ebene und einem darauf montierten Baugerüst besteht es nicht. Umso erstaunlicher, wie das spielfreudige Ensemble dennoch die Illusionsmaschine in Gang zu setzen versteht. Den Zuschauern stehen der Bahnhof, das Hotel oder das Bankgebäude deutlich vor Augen, obwohl sie gar nicht da sind.

Zur Atmosphäre der Szenen und zum Charakter des Stücks tragen nicht zuletzt die musikalischen Bestandteile des »Atze-Singspiels« ihren Teil bei. Neben einzelnen Liedern und Sprechgesängen, von Sutter auf ein mitsingendes Publikum hoffend getextet und komponiert, sorgen die Arrangements und Kompositionen der musikalischen Leiterin Sinem Altan für die jeweils passende Stimmung. Lediglich drei Musiker bedienen die Instrumente (Doro Gehr am E-Piano und Akkordeon, Nikolaus Herdieckerhoff am Cello und »Schmidty« Schmidt an allerlei Trommeln). Anfangs am Bühnenrand platziert, mischen sie bald aktiv im Geschehen mit und übernehmen wechselnde Rollen.

Dass das Atze-Theater auf Schülergruppen angewiesen ist, ist kein Geheimnis. Im »Emil« aber trifft das nicht nur auf den Zuschauerraum zu. Als der Ganove auf der Bühne gestellt wird, ist daran eine komplette Tempelhofer Grundschulklasse beteiligt. Dass diesen Jungen und Mädchen nicht nur Mut zum selbstständigen Handeln, sondern auch Lust am Theater gemacht werden konnte, war ihnen deutlich anzusehen.

Nächste Schultermine: 11., 12.1., nächste Wochenend-Termine: 14., 28.1.

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