Nicht ganz ein Manifest

Occupy, Tahrir-Platz und Pegida als »Versammlung der Prekären«? Philosophin Judith Butler widmet sich der Aneignung der Straße

  • Johannes Kuhnert
  • Lesedauer: 3 Min.

Das neuste Buch der US-amerikanischen Philosophin Judith Butler kann bei Leser*innen einen merkwürdigen Beigeschmack hinterlassen. »Anmerkungen zu einer performativen Theorie der Versammlung« wurde 2015 zunächst auf Englisch veröffentlicht und Ende vergangenen Jahres für den Suhrkamp Verlag ins Deutsche übersetzt. Doch schon heute könnten den Leser*innen berechtigte Zweifel kommen, ob Butlers etwa 200-seitiges Buch noch vollends zeitgemäß ist.

Nichtsdestotrotz ist dieses Werk der poststrukturalistischen Feministin absolut lesenswert. Gerade als Einstieg in das Denken Butlers ist es gut geeignet. Viele Gedanken aus den letzten 20 Jahren intellektueller Arbeit werden hier aufgenommen und in einer Frage gebündelt, die ihr eigenes akademisches Tun betrifft, aber auch für weitere Leser*innenkreise relevant sein kann: Welche Verbindung besteht zwischen Butlers früheren Arbeiten zu Gender-Themen und Queer-Theorie und ihrem scheinbar verschobenen Fokus auf Kriege, den Konflikt um Palästina oder neoliberale Umstrukturierung?

Im Zentrum dieser Auseinandersetzung steht der Begriff der Prekarität. Als prekär versteht Butler jene Gruppen, die ihre physische Grundlage täglich angegriffen sehen oder deren schiere körperliche Existenz sie verletzbar macht. In der Formulierung Hannah Arendts sind es jene, die mit den Notwendigkeiten des Lebens derart verbandelt sind, dass ihnen das Recht, in der Öffentlichkeit zu erscheinen, strukturell verwehrt ist.

Anders als Arendt, die skeptisch gegenüber sozialpolitischer und feministischer Politik war, unterstreicht Butler das Potenzial einer Allianz der Prekären. Sie macht den Versuch, eine Brücke zu schlagen: von migrantischer prekarisierter Arbeit, Wohnungsnot zu dem Recht von Frauen oder Transgender, unbeschadet in der Öffentlichkeit aufzutreten. Es geht ihr um öffentliche Infrastrukturen, aber auch um das racial profiling von Afroamerikanern oder als »Nafris« Stigmatisierten. Butler grenzt sich damit klar von reiner »Identitätspolitik« ab. Prekarität sei ein politisch-soziales Phänomen, keine Identität.

Doch Prekarität bildet nicht nur das politische Motiv einer solchen möglichen Koalition. Sie würde ihr, so Butler, auch die Ausdrucksform zur Hand reichen. Die Proteste vom Tahrir-Platz, von Occupy Wallstreet oder dem Gezi-Park hätten eine neue Form politischer Kultur entwickelt, in der sich Prekäre versammeln und Plätze aneignen. Die Politik prekärer Körperlichkeit verbindet sich hier mit Aneignungsprozessen öffentlicher Infrastrukturen. Das Auftreten und Besetzen solcher Orte sei selbst schon ein »performativer Akt«, das heißt eine sprachliche Handlung mit Wirkungsmacht, schon bevor irgendein politischer Diskurs eröffnet wird.

Leser*innen dürften an dieser Stelle jedoch skeptisch werden. Butler weist zwar darauf hin, dass es gefährlich sei, Proteste zu romantisieren. Auch Bewegungen wie Pegida versuchen schließlich, sich Plätze anzueignen. Die Philosophin belässt es bei dem Verweis, dass wir Bewegungen danach bewerten müssen, ob sie Gleichheit befördern würden oder nicht. Diese knappe Bemerkung bleibt dem Kern ihres Buches aber genauso äußerlich wie jene zur Mediatisierung der Proteste. Den akademischen Leser*innen können viele ihrer Thesen nicht neu oder zu kurz erscheinen. Vieles fand sich schon zuvor in Butlers Schriften - aber auch woanders, etwa bei Hannah Arendt.

Aktivistische Leser*innen werden sich zudem fragen müssen, wie zeitgemäß diese Analyse ist. Die Besetzung des Tahrir-Platzes oder des Zucotti-Parks liegen nunmehr fünf Jahre zurück. Im Westen finden die Ausläufer dieser Bewegungen um Sanders oder Podemos neue Formen der Institutionalisierung, während die Türkei zwischen Terror und Autoritarismus erstickt. Womöglich werden sich in den USA bald wieder öffentliche Versammlungen gegen Trump erheben. Momentan jedoch scheint die Übersetzung von Butlers Buch nicht den Takt des politischen Zyklus zu treffen.

Judith Butler wird somit wahrscheinlich keine ihrer Lesergruppen vollends zufrieden zu stellen. Doch die Stärke dieses Buches besteht gerade darin, kein Manifest zu sein, sondern eben nur eine Reihe von Anmerkungen. Über die Relevanz dieses Buches wird auch politisch zu streiten und angesichts der Ereignisse des Jahres 2017 zu entscheiden sein.

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