Ein Missile für das 21. Jahrhundert
Notizen von einer Konferenz in Athen zu 150 Jahre »Kapital«
»Es ist sicher das furchtbarste Missile, das den Bürgern … an den Kopf geschleudert worden ist«, schrieb Karl Marx 1867 anlässlich der Erstveröffentlichung des ersten Bandes von »Das Kapital«. Das ist nun 150 Jahre her und angesichts aktueller kapitalistischer Krisen und Verwerfungen, kann von einer größeren Aufmerksamkeit für das Marxsche Werk im Jubiläumsjahr ausgegangen werden. Den Auftakt bildete nun allerdings eine Konferenz nicht in seinem Herkunftsland, sondern in Athen, ausgerechnet dem Ort, an dem vor zwei Jahren viele Hoffnungen auf eine linke Alternative zur aktuellen Krisenpolitik in Europa zerschellten. Organisiert wurde sie von der Rosa Luxemburg Stiftung in Athen und der Redaktion der Zeitschrift »Theseis« um den Wirtschaftsprofessor John Milios, bis März 2015 Berater von SYRIZA und der Regierung Tsipras, zu der er jedoch, nach der Unterwerfung unter das Diktat der europäischen Gläubiger und des IWF, auf Distanz gegangen war. Gerade aufgrund dieser Erfahrungen sah Milios die Notwendigkeit für eine stärkere theoretische Reflexion über die Voraussetzungen linker Strategien bestätigt, wie er zu Beginn der Konferenz deutlich machte. Passend dazu trug diese daher den Untertitel »Reflexionen für das 21. Jahrhundert«.
Mit Michael Heinrich und Etienne Balibar waren vor allem Vertreter von zwei Marx-Rezeptionen aus Deutschland und Frankreich anwesend, die ihre Ursprünge in den 1960er Jahren haben und bis heute großen Einfluss ausüben. Beiden gemeinsam ist eine Abgrenzung gegen ältere Lesarten des »Kapital«, die darin eine vollständig ausgearbeitete, eigene marxistische Wirtschaftstheorie und ein geschichtsphilosophisches Entwicklungsmodell ausgebreitet sahen. Das Marxsche Werk wurde hingegen als ein beständiges und unabgeschlossenes Ringen nicht nur mit den Kategorien der von Marx kritisierten ökonomischen Theorien, sondern auch der eigenen Ambivalenzen präsentiert. Auf Ablehnung stießen daher auch die Bemühungen um eine Rekonstruktion eines »richtigen« Kerns der Marxschen Theorie. Vielmehr sollte diese vor dem Hintergrund der gegenwärtigen Entwicklungen aktualisiert werden.
Die gegenwärtige Situation nicht nur in Griechenland spielte daher ebenfalls eine prominente Rolle auf der Konferenz. Dies betraf auch die Handlungsoptionen und Herausforderungen einer Linken an der Macht. So referierte etwa Marta Harnecker aus Venezuela über das Projekt des »Sozialismus im 21. Jahrhundert« und forderte das Zusammengehen von linken Regierungsmehrheiten und sozialen Bewegungen. Deutlich skeptischer zeigten sich in dieser Hinsicht viele Redner aus Griechenland und Brasilien.
Die traditionelle Aufteilung von Ökonomie, Politik und Recht in voneinander unabhängige Handlungsfelder wurde zurückgewiesen. Vielmehr würden sich diese Bereiche fast zur Unkenntlichkeit überschneiden, was vor allem an den jüngsten Gerichtsentscheidungen im Sinne der Kürzungs- und Sparpolitik in den europäischen Krisenländern deutlich gemacht wurde. Eine zentrale Schlussfolgerung auf der Konferenz bestand daher darin, die Rolle des Staates stärker bei der Durchsetzung und Aufrechterhaltung der kapitalistischen Verhältnisse in den Blick zu nehmen.
Insgesamt präsentierte sich eine äußerst vitale »Kapital«-Rezeption, die sich entschlossen zeigte, nicht bei der Huldigung des Werkes und seines Autors stehenzubleiben, sondern den eingangs zitierten Anspruch ernstzunehmen und die »Kritik der politischen Ökonomie«, wie das Kapital im Untertitel heißt, als Waffe im Kampf für eine alternative Gesellschaft zu schärfen.
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