Mexikos neue Diven
Transgender beweisen sie Mut, denn ihre persönliche Freiheit im öffentlichen Raum zur Schau zu stellen ist sehr riskant
»Amor Eterna« (in ewiger Liebe) steht am Rand des überlebensgroßen Starschnitt-Fotoposters. Mit dieser Abschiedsformel wird Juan Gabriel, Mexikos König der Herzen, nun bereits seit mehr als 140 Tagen »Adios« gesagt. Die Tränen des Volkes, welches sich zu Tausenden zu seiner Trauerfeier eingefunden hatte, sind inzwischen getrocknet und Mexikos wohl meistgeliebter Sänger hat Einzug in den Olymp der Diven gehalten. Zurück bleibt sein Abbild, in Form von Postkarten und Fotos, die in Windeseile in den Druckereien der Stadt vervielfältigt wurden und nun an jedem zweiten Zeitungsstand erhältlich sind. Aber wie kann ein Sänger, der zwar kein offizielles Coming-out hatte, aber dennoch offen homosexuell lebte, in einer erzkatholischen Gesellschaft wie Mexiko derart geliebt werden? Und wie passt es zusammen, dass man in dieser Stadt, in der es über 200 homophob motivierte Gewalttaten während der letzten 20 Jahre gab, auf offener Straße so viele homo- und transsexuelle Menschen sieht?
Ich gehe zu meiner Freundin Lía la Novia, die hoch über den Dächern der Stadt in der Besenkammer eines Mehrfamilienhauses lebt. Sie ist eine Sirene - der Szenebegriff rekurriert auf die mythischen betörenden Sängerinnen. Vor zwei Jahren lernte ich die Performancekünstlerin und Transgender-Aktivistin kennen. Heute macht Lía ihre Rolle als Transfrau und Kind der Stadt in kleinen Performances einem breiten Publikum zugänglich.
»Heute mag ich nicht hinausgehen«, sagt Lía, als wir auf der Matratze ihrer Kammer liegen, »nach dem, was mit Paula passiert ist.« Paula, Sexarbeiterin auf dem Transsexuellenstrich an der Puente de Alvarado Allee, wurde die Nacht zuvor von einem Freier erschossen. Dies geschah vor den Augen von Paulas Kolleginnen im Auto des Freiers, nachdem dieser das Offensichtliche feststellte: Paula war ein Mann. Doch trotz der Zeugenaussagen ließ die Polizei den Freier gehen. Er war ein Beamter im Verwaltungsapparat der Polizeibehörde. Lía stemmt den Ellenbogen in die Matratze. »Nach allem, was wir erreicht haben für unsere Szene - die Gesetze, die wir durchgeboxt haben, die unsere Stadt heute zu einer der fortschrittlichsten in Sachen Gender und Queer-Rechte macht: die gleichgestellte Ehe, legale Abtreibungen sowie die Anerkennung der Transsexualität«, sagt Lía und guckt aus dem Fenster, »und dennoch kann man in dieser Stadt als Transfrau keinen Fuß vor die Tür setzen, ohne darüber nachzudenken, ob man wohl lebend zurückkehren wird.«
»In Mexiko bedeutet Männlichkeit alles«, führt sie fort und dreht das Gesicht mit den vollen, weinrot gemalten Lippen zu mir: »Dieses Geschlecht zu verlassen und damit seine Vormachtstellung aufzugeben, stellt einen Affront für jeden Mann dar, der an dieses Regelsystem glaubt.« Doch bleibt bei aller Männlichkeit und Machokultur eine Lust für dieses andere Geschlecht, welches sich allerorts in der Stadt anbietet. Scharenweise stehen die transsexuellen Sexarbeiterinnen in gleich mehreren Vierteln der Stadt. Unzählige Male bin ich auf meinem Heimweg im Taxi nachts an ihnen vorbeigefahren und habe ihre kleinen, zierlichen Körper bewundert, die hohen Wangenknochen und vollen Lippen, die dunkle Haut, auf der die schillernden Farben des Make-ups irisierend leuchten.
»Es ist der kleine Tod«, sagt Lía, den manche Männer in einer solchen Situation nicht verkraften. »Das Verlangen fällt von ihnen ab wie eine alte Haut und plötzlich stehen sie nackt vor der Wahrheit. In ihrer Verzweiflung suchen sie ein Opfer, das ihre Sünde tilgt. So werden wir Transfrauen im Foucaultschen Sinne zu Delinquenten«, fügt Lía nach einer langen Pause hinzu und bezieht sich auf den von Michel Foucault geschöpften Begriff der »micro-delincuencia« - der Schuld derer, die den Normen entkommen, indem sie sich für eine andersartige Sexualität entscheiden. Zweimal die Woche fährt Lía neuerdings ins Gefängnis, wo sie inhaftierten Transfrauen einen Workshop zum Thema Zuneigung anbietet. Dort lernen sie damit umzugehen, dass ihre Zuneigung in der Gesellschaft gleichzeitig gesucht und verhasst ist. »Die meisten Transfrauen sitzen wegen Diebstahls in Haft«, erzählt Lía, »meist sind es von Freiern erdachte Diebstähle - zur Anzeige gebracht, um diese Frauen dafür zu bestrafen, dass sie ihre Wünsche nicht erfüllt haben, ihr Verlangen nicht stillen konnten oder eben das Gegenteil - dass sie etwas in ihnen weckten, dessen Realität sie nicht aushalten konnten.«
»Unsere Gesetze repräsentieren die Radikalität unserer Stadt«, sagt Lía. Doch die neue, überaus liberale Gesetzgebung, die sie auf dem Papier mit dem Rest der Bevölkerung gleichstellt, ist in der Gesellschaft noch lange nicht angekommen. So spielt sich hier im Kleinen ab, was für die Zerrissenheit unserer Zeit steht, in der ultrakonservative auf ultrafortschrittliche Realitäten prallen und gleichzeitig neue Allianzen zwischen Gleichgesinnten aus aller Welt entstehen und aus Minderheiten Mehrheiten werden. »Nach wie vor fehlt den meisten Menschen die Vermittlung des Gedankenguts, welches dieser neuen Politik zugrunde liegt.« Lía hat also beschlossen, ihre Kunst an die Orte zu tragen, die von den unteren Gesellschaftsschichten besucht werden. Dort, im Waggon der U-Bahn, auf den Volksfesten oder im Basar feiert sie sich als New-Age-Sirene, als Braut und als Quinceanera und verwendet dabei die Symbole und Rituale der populären Kultur.
Damit beweist sie Mut, denn ihre persönliche Freiheit im öffentlichen Raum zur Schau zu stellen ist riskant. Freiheit wird in Mexiko nur selten gemeinschaftlich gefeiert - erst kam die Conquista mit den Spaniern, dann die blutige Revolution, die das Land in den reichen Norden und den armen, indigenen Süden teilte, dann die Diktatur, und schließlich das heutige, fein austarierte Machtgefüge zwischen Drogenbanden, Staat und einer Heerschar von geschmierten Mitwissern und Schreibtischtätern. In einem solchen Land ist die persönliche Freiheit, wie wir sie im Westen leben, geradezu unbekannt. Und dennoch: Das Gefühl im gleichen Boot zu sitzen, die Allianzen zwischen den kleinen Leuten, zeigen eine viel natürlichere Toleranz, die sich weitab von der reglementierten Toleranz der leitenden Elite abspielt. Diese Toleranz ist viel rudimentärer und für die, die sie nicht selbst erlebt haben, gleichzeitig wunderbar und befremdlich.
Ein Lichtstrahl tritt durchs Fenster und taucht die über und über mit Nippes beladene Dachkammer ins Licht. Lías Gesicht strahlt jetzt, als sie sagt: »Den Mexikanern fließt das Gefühl im Blut, anders zu sein - wir kennen Diskriminierung wie kaum eine andere Nation. Unsere Fähigkeit, entgegen aller Wahrscheinlichkeit Einigkeit zu erzeugen und innerhalb dieser Einigkeit Akzeptanz für jegliche weitere Andersartigkeit, spürt man unter Mexikanern sofort. Das ist, wenn du so willst, die mexikanische Seele. Der, der dies so unglaublich deutlich aufgezeigt hat, ist Juan Gabriel. Er brachte die mexikanische Seele virtuos zum Klingen.« Die Sonne neigt sich bereits, als ich schließlich über die Feuerleiter von Lías Dach herabsteige. »Du solltest Roshell besuchen«, hatte mir Lía noch zum Abschied gesagt. »Sie war eine der ersten Aktivistinnen der Stadt und ist wie eine Mutter für uns alle.«
Auf meinem Heimweg stehe ich an einer Ampel und sehe in das Gesicht einer Transfrau, die mich unverwandt anblickt. Ihr Haar ist ebenso blond wie meines und für einen Augenblick lächeln wir uns gegenseitig an. Schwer mit Einkäufen bepackt, ist sie mit ihrer Mutter, Schwester und kleinen Nichte unterwegs. Ich befinde mich in einem Barrio Bravo, also einem sozialschwachen Viertel. Es sind die sozialschwachen Viertel dieser Stadt, in denen die Lesben, Schwulen, Bisexuellen und Transgender, im Englischen abgekürzt mit LGBT, absolut keinen zu jucken scheinen. Hier ist es ganz selbstverständlich, dass einige der Ghetto-Rosen Transfrauen sind und manche harten Kerle Transmänner. Sie heißen Juan oder Juanita, Pablo oder Paola, Dario oder Dolores, verkaufen Tacos oder Raubkopien und wie alle anderen verstehen sie sich als Menschen - nicht als Minderheit - gegenüber korrupten Polizisten, Kleinkriminellen und Mafiosos zu behaupten.
Ende der 1970er Jahre, als LGBT noch Böhmische Dörfer waren, gab es im Bewusstsein der Leute nur schwule und nicht-schwule Menschen. Manche Schwule verkleideten sich als Frauen und fuhren so in der U-Bahn oder liefen in der Stadt herum. Von ihnen wusste man, da die mexikanische Klatschpresse, die sogenannte Nota Roja - »roja« (rot) wegen des vielen Blutes, welches auf den Titelseiten zu sehen ist - es liebte, die Fahndungsfotos dieser Crossdresser abzudrucken, verkauften sich die Nummern doch besonders gut. Die Zeitung »Alarma!« hielt ein Monopol auf diese skandalösen »Mujercitos« (Frauchen), wie die Crossdresser bis heute in Mexiko politisch unkorrekt genannt werden.
»Schau«, sagte mir meine Freundin Susanna Vargas, die zu dem Thema promovierte und vor Kurzem einen schaurig-schönen Bildband mit dem alten »Alarma!«-Material herausbrachte: »In Mexiko gibt es ein ungeschriebenes Gesetz, welches besagt, dass alles - und ich meine alles - toleriert werden kann, solange wir uns darüber lustig machen dürfen. Du kannst dich also aufführen, wie du willst, vom kleinsten Fehltritt bis zur größten Gräueltat. Dein Herausfallen aus der Rolle, die dir von der Gesellschaft aufgedrückt wurde, wird in diesem Land immer als ein spätes Rebellieren gegen die koloniale Vorherrschaft interpretiert und so verziehen werden.«
Auf diesem gesellschaftlich verankerten Code basiert alles - sei es die politische Gewaltherrschaft über die Drogenkartelle oder die Korruption. Das Volk reagiert auf all dies seit Jahrhunderten auf dieselbe Art und Weise: Es macht sich lustig. »Albur« nennt sich diese Form mexikanischer Ironie, die bis zur Conquista zurückzuverfolgen ist. »Unser Humor funktioniert wie eine Schmerzpille gegen die nun seit Jahrhunderten andauernde Ungerechtigkeit«, sagt Susanna und lächelt traurig.
Der Club Roshell liegt in einem Viertel, das - von mächtigen Hauptverkehrsstraßen eingekeilt - eine geduckte Atmosphäre vermittelt. Der Winterwind bläst Blätter durch die Straße, als ich vor dem Einfamilienhaus stehen bleibe, welches mir die App als mein Ziel anzeigt. Ich zögere, bevor ich die Klingel drücke - wie ein Travestieclub sieht dieses Haus nicht aus, kein Schild, kein Name und auch sonst deutet nichts auf das schillernde Innere dieser geschlossenen Auster hin. Dann öffnet sich die Tür einen Spalt und eine zierliche Trans-Brünette mit traurigen Augen und Puppenmund zeigt sich. »Ich habe einen Termin mit Roshell«, sage ich erleichtert darüber, offensichtlich an der richtigen Adresse gelandet zu sein. Doch hallt meine Stimme deutlich zu laut durch die Straße und der weinrot geschminkte Mund der Pförtnerin zuckt konstatiert. Hastig suchen ihre Augen die Straße ab, dann öffnet sich die Tür etwas weiter und ich werde am Arm ins Innere gezogen. »Warte hier«, sagt sie streng und tritt vom Vorraum in einen roten Salon. Dann sehe ich Roshell. Sie hat einen keilförmigen Körper, fast die gesamte Masse scheint oberhalb der Taille zu sitzen, mit breitem Kreuz, runden Schultern, kräftigen Armen, einem kurzen Hals und einem Bauch, der direkt unter der Brust beginnt und sich über schlanke Beine zu zierlichen Füßen verjüngt. Roshells Haupt ziert eine goldene Haarpracht, die in langen Wellen über die Schultern fällt.
Sie habe sich heute als feine Dame aus Polanco, dem Reichenviertel der Stadt, zurechtgemacht, sagt Roshell und lacht röhrend. Jessy, eine lange und dürre Transfrau mit Fidel-Castro-Schirmmütze kommt herein und bietet uns Drinks an. Ich schaue auf das überlebensgroße Porträt eines jungen Mannes, welches hinter ihr an der Wand prangt. »Das ist Erasmo«, sagt Roshell, meinem Blick folgend. »Wir waren viele Jahre lang ein Liebespaar, bis Luis starb.« Wer Luis sei, will ich wissen, worauf Roshell erklärt, sie sei Luis gewesen, bevor sie sich entschied, eine Frau zu werden. Gerade 18 Jahre alt waren sie, als ihre Beziehung begann - sie studierten gemeinsam an der Schauspielschule. Als eine kleine Drag-Nummer für ein Theaterstück an dem »Palacio de Bellas Artes« besetzt werden sollte, fiel die Wahl auf die beiden. Der Auftritt sollte für Luis zum Schlüsselmoment in seinem Leben werden. »Als ich fertig kostümiert war und in den Spiegel blickte, wurde mir klar‚ das ist es! Nie wieder will ich ein anderer sein«, erzählt mir Roshell und lächelt, wobei sich eine Spur von Traurigkeit über ihr Gesicht legt. »Mit der Entscheidung, mein Geschlecht zu wechseln, begann eine lange und schwierige Trennungsphase zwischen Erasmo und mir. Unsere Liebe musste einen neuen Weg finden, wir wurden Freunde, doch etwas starb dabei.«
Als die Hormone, die sie damals einzunehmen begann, ihre Wirkung zeigten, wurde Luis arbeitslos. »Es gibt leider immer noch nur wenige Berufe, in denen du als Transfrau arbeiten kannst - Garderobistin, Stylistin, Klamottenverkäuferin oder Kabarettistin. Wenn es damit nicht klappt, bleibt bloß die Sexarbeit. Und doch können wir von Glück reden, dass wir zumindest diese Berufe haben«, sagt Roshell und lächelt mir enthusiastisch zu. »Ich war geschickt im Schminken und sah zudem zu dieser Zeit selber wirklich umwerfend aus. Also eröffnete ich meinen eigenen Schönheitssalon«, sagt sie augenzwinkernd und nippt an ihrem Branntwein. Wie so oft im Gewerbe um die Schönheit kamen die Menschen nicht nur für die Pflege ihres Äußeren, sondern auch um über ihre Sorgen und Probleme zu sprechen. »Ich habe mich auf die Rolle eingelassen, anderen auf ihrem Weg zu helfen. Auch wenn das nicht der Traum des jungen Schauspielstudenten Luis war, habe ich diese Arbeit gerne gemacht.« Heute ist Erasmo Roshells Geschäftspartner in dem Club, der ihren Namen trägt. Wie Sonne und Mond treten sie nur abwechselnd auf den Plan.
Ob ein Schweigen Juan Gabriels zu seiner Homosexualität nicht zu Enttäuschungen seitens der LGBT-Szene geführt habe, will ich wissen. Roshell schüttelt heftig mit dem Kopf: »Anfangs war die Wut in der Szene schon sehr groß. Aber dann waren da die Lieder Juan Gabriels - hunderte hat er damals geschrieben - und alle schienen dieselbe Botschaft zu tragen: dass alles Bemühen um Abgrenzung nur auf Äußerlichkeiten basiert.« Sie pausiert und sieht mir prüfend ins Gesicht: »Ich meine damit, dass am Ende deine sexuellen Präferenzen sein können, was immer sie sind, dass du dich kleiden kannst, wie du willst, dass deine Art zu sprechen, zu feiern, zu streiten sein kann, wie du willst - das, was am Ende zählt, ist, was du im Herzen trägst«, sagt Roshell und lehnt sich triumphierend im Sessel zurück. So wurde die Absage Juan Gabriels, der Öffentlichkeit das Private, in profane Worte verpackt, ausdrücklich zu machen, zu einer Meditation für eben diese Öffentlichkeit. Denn was nützen Worte für jene, die bereits sehen und spüren, was er ist, und was nützen sie für diejenigen, die diese Wahrheit nicht, oder noch nicht, akzeptieren können? Die Tür des Vorzimmers öffnet und schließt sich nun immer öfter und mal große, mal kleine, mal junge, mal alte, jedoch allesamt äußerst sorgfältig zurechtgemachte Transfrauen betreten den Raum und werden mir eine nach der anderen formal vorgestellt. Einige Transfems, also Männer, die sich zu Transfrauen hingezogen fühlen, sind auch dabei. Dass die Transfem-Männer hier unter den Augen aller mit den Transfrauen anbändeln, ist geschickt von Roshell konstruiert: Sie erzeugt Sicherheit durch soziale Kontrolle, denn die Männer müssen sich offen zeigen und zu den sexuellen Botschaften stehen, die sie aussenden. So wird Kultur geschaffen, durch die Pflege dieses Umgangs innerhalb des sozialen Gefüges dieser Mikrogesellschaft im Club Roshell.
Die Sängerin, deren Geburtsstätte der Club Roshell war und deren Stern inzwischen hoch am Himmel steht, ist Morganna Love. Sie studierte Gesang an der staatlichen Musikakademie, wobei sie ihre Ausbildung als Mann begann und als Frau abschloss. Vor gut drei Jahren sah ich sie in dem Travestieclub la Perla im Zentrum der Stadt. Dünn wie eine Gottesanbeterin, mit viel zu großen Plateausandaletten an den ebenfalls dünnen Füßen und bekleidet mit nichts weiter als einem pinkfarbenen Paillettenbody hatte sie zitternd vor Kälte oder Aufregung dort mit herber und doch lieblicher Stimme Popsongs gesungen. Ihre Schüchternheit kompensierte sie mit einem verlegenen Lachen und wiederholtem gesenktem Blick, während sie gefährlich strauchelnd mit langen Beinen über die vom Publikum umringte Bühne schritt und dabei an ein umzingeltes Jungtier erinnerte. Selbstredend war die Stimmung sexuell aufgeladen und ein Blick in die Gesichter des Publikums ließ neben Erstaunen über dieses zarte Geschöpf inmitten der sonst so über-operierten wie verhärmten Transfrauen, die normalerweise das Repertoire des Clubs bestimmten, auch das sexuelle Verlangen spüren. Heute reist Morganna durch die Welt und füllt ganze Opernhäuser.
Nun sitzt sie mit einem großen Glas grünen Fruchtsafts vor mir und scheint noch zierlicher, aber dennoch weiblicher als damals. »Sexualität ist Geschmackssache«, sagt sie und lacht kokett auf, wobei sie den Kopf in den Nacken wirft und einen sanften, an einen Paradiesvogel erinnernden Schrei ausstößt, dem ein Seufzer folgt. Ich betrachte die weißen Zähne, die zwischen den schmalen Lippen sichtbar werden, und das kantige, gebräunte Gesicht. »Am Ende gibt es keine Kategorien sexueller Präferenzen, die man Menschen zuordnen könnte - mir zum Beispiel gefallen ausschließlich Männer, die ordentlich und adrett angezogen sind«, sagt sie und lacht noch einmal auf, »damit bin ich sicher nicht die Einzige - aber muss man hierfür unbedingt einen Namen finden? Eine Kategorie aufmachen?« Sie schaut mir in die Augen, nimmt schmunzelnd einen Schluck und fügt hinzu: »Wir Transfrauen sind ganze Menschen und der Denkfehler, uns nur auf unsere Sexualität zu reduzieren, ist nach wie vor das größte Problem, das wir mit der Gesellschaft haben. Auch die Männer, die sich zu Transfrauen hingezogen fühlen, haben Probleme, die Natur ihrer Gefühle zu erfassen - sind sie schwul, weil die Frau, zu der sie sich hingezogen fühlen, einen Penis hat?« Sie blickt hinaus auf die Straße, wo ein Trupp junger Leute vorbeizieht. »Die Androgynität der Transfrauen, das Exzessive in ihrer Art, sich zurechtzumachen, die Körperlichkeit, ihr Mut, das gefällt vielen - und das sind doch alles recht maskuline Züge«, sagt sie und fährt fort: »Doch ich bleibe dabei, auch das ist einfach Geschmackssache, es gibt da kein Raster.«
Derweil unterscheidet sich das Frauenbild, welches Morganna von den Transfrauen gezeichnet hat, radikal von dem Bild einer mexikanischen Cisgender-Frau (Cisgender bezeichnet Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt). Sie zählt die Prinzipien dieser Erziehung wie einen Abzählreim auf: »Keine Einsprüche, keine Ansprüche, keine Kritik. Sag nichts, bevor du nicht gefragt wirst, mache keine Vorschläge und denke vor allem niemals, dass du es besser weißt.« So fallen mexikanische Frauen selten aus dem von der Gesellschaft vorgegebenen Rahmen, weder durch einen auffälligen Kleidungsstil noch durch eine eigenwillige Denkweise.
Wir zahlen und ich begleite Morganna durch die von Menschen überfluteten Straßen des Marktviertels. Morganna, in einen schwarzen Wollmantel gekleidet, gleitet elegant durch die Massen der Menschen, die hier Handel betreiben. »Ich spüre den Unterschied deutlich, was es bedeutet, oder wie es sich anfühlt, eine Frau zu sein«, sagt Morganna jetzt mit gedämpfter Stimme. »Weißt du, ich habe immer die großen Diven bewundert - Renata Tebaldi und Maria Callas. Sie waren Rivalinnen, die eine hatte die Stimme, die andere das Feuer, die Leidenschaft beim Singen. Doch sobald die Callas die Liebe ihres Lebens fand, begann das Feuer zu versiegen, ihre Präsenz auf der Bühne erlosch. Diese große Sehnsucht erkenne ich bei uns Transfrauen wieder. Die Sirene, die sich nach den Seefahrern verzehrt, die ihre Leidenschaft aber nicht bändigen kann und die Objekte ihrer Begierde schließlich tötet. Doch der Tod hält ihre Leidenschaft am Leben - nur die Angepasstheit kann sie töten - so wie es mit Andersens kleiner Meerjungfrau geschieht.«
»An diesem Freitag trete ich im Club Roshell auf«, hatte Morganna ein paar Tage später geschrieben, »komm vorbei!« Abends sitze ich an einem der Bistrotische im Kabarettsaal. Kurz vor Mitternacht trifft Morganna ein, ein langes Cape aus schwerem, grauschimmernden Stoff liegt auf ihren zarten Schultern und wird seitlich von einer schweren Spange zusammengehalten. Das Haar hat sie aus dem Gesicht frisiert und ihr Paradiesvogellachen erscheint noch dramatischer als zuvor. Ihr Gesang, der bald darauf ertönt, hat nichts mehr mit dem Auftritt des kleinen Sternchens zu tun, das ich vor drei Jahren in der Perla sah. Morganna singt die Königin der Nacht, Piaf und Verdi. Sie tanzt nicht, zieht sich nicht aus und doch verbreitet sie eine Spannung, die ihr leidenschaftliches Publikum in Salzsäulen verwandelt hat. Ihr letztes Lied ist »Yo te recuerdo« von Juan Gabriel und wir alle stimmen ein, beseelt und von glühender Sehnsucht erfasst.
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