Erste feine Risse

Nach dem Aus bei der Handball-WM durch ein 20:21 gegen Katar wackelt der Zusammenhalt im deutschen Team

  • Michael Wilkening, Paris
  • Lesedauer: 4 Min.

Der Abgang der deutschen Handballer aus Paris hatte Züge einer Flucht. Am frühen Morgen zerstreuten sich Spieler und Funktionäre von Paris aus in alle Richtungen, nachdem die Gemeinschaft durch das unerwartete Ausscheiden im Achtelfinale der Weltmeisterschaft gegen Katar auseinandergerissen worden war. Nachfragen waren nicht mehr erwünscht, eine sonst übliche Fragerunde am Turnierende wurde abgelehnt. Ein Jahr lang waren Trainer und Spieler des Deutschen Handballbundes (DHB) nach den Erfolgen bei EM und Olympia 2016 gefeiert worden. Nun aber hatten sie am ersten Rückschlag der vergangenen zweieinhalb Jahre schwer zu knabbern.

Unmittelbar nach dem 20:21 gegen Katar, nach der Niederlage, die so schwer greifbar war, hatte zum großen Teil Fassungslosigkeit geherrscht. Die erste große Enttäuschung dieser Mannschaft offenbarte zudem kleine Risse in dem Gebilde Nationalteam. Der immer ehrgeizige Andreas Wolff übte Kritik an seinen Kollegen, als er verbal mit dem Finger auf den schwachen Angriff zeigte. »Da müssen sie die Spieler vorne fragen, in der Abwehr hat es ja funktioniert«, sagte der Torwart des THW Kiel. Der 25-Jährige agierte auf Weltklasseniveau, als es beim Turnier in Frankreich erstmals wirklich darauf ankam. Aber er musste erkennen, dass die meisten Mitspieler das diesmal nicht schafften.

»Die Katarer waren fokussierter als wir«, sagte Wolff. Dieses Eingeständnis zeigte, dass das deutsche Aus einer mentalen Fehlleistung entsprang. Am Abend nach dem Spiel hatten viele Spieler versucht, den Frust an der Hotelbar mit Bier zu bekämpfen. Doch ein Rausch wird nicht reichen, um den plötzlichen K.o. gedanklich hinter sich lassen zu können. Die Gewissheit, fahrlässig gewesen und deshalb gescheitert zu sein, ist nur langsam aus den Köpfen zu verbannen.

Bei Dagur Sigurdsson könnte das schneller gelingen, denn der Trainer wirkte schon am Montag aufgeräumt, als er in Berlin aus dem Flugzeug stieg. Sprechen wollte er allerdings immer noch nicht, wortlos zog er auch hier an wartenden Journalisten vorbei. Der Isländer hatte sich am Vorabend von der Mannschaft verabschiedet. Es war kein emotionales Lebewohl, eher das sachliche Ende einer Zusammenarbeit, die nie von tiefer Liebe geprägt war, sondern lange davon lebte, dass ein recht strenger Vater seine »Zöglinge« vorantrieb.

In zehn Tagen, direkt vor dem Allstar-Game, wird sich Sigurdsson noch einmal bei einer Pressekonferenz äußern. Es soll eine Art Abschied werden. Das Spiel der deutschen Mannschaft gegen eine Auswahl der restlichen Bundesligastars wird er aber schon nicht mehr coachen, der Isländer hat mit dem Kapitel DHB abgeschlossen.

Sigurdsson ist Schachspieler und hatte bei seinem letzten Spiel als Bundestrainer bewusst mit hohem Risiko agiert. Die Rochade mit den kurzfristigen Nachnominierungen von Holger Glandorf und Hendrik Pekeler brachte letztlich nicht den gewünschten Effekt. Vielmehr hatte es innerhalb der Mannschaft vereinzelt zu Kritik geführt. Torwart Wolff war seinem Kieler Vereinskollegen Rune Dahmke zur Seite gesprungen, der für Pekeler hatte abreisen müssen.

Innerhalb der Mannschaft musste das Wechselspiel des Trainers zwangsläufig dazu geführt haben, dass sich einzelne Spieler fragten, wann es sie denn erwischen könnte. Bei den Olympischen Spielen in Rio de Janeiro war Patrick Groetzki nach zwei Partien ohne Einsatzminute aus dem Kader gestrichen worden.

Es wird nicht mehr zu klären sein, ob der Führungsstil des Isländers diesmal negative Auswirkungen auf die Leistung seiner Spieler gehabt hat. Er konnte das Risiko jedenfalls eingehen, weil er künftig nicht mehr mit dieser Mannschaft arbeiten muss. Sigurdsson ordnete alles dem kurzfristigen Erfolg unter, wurde skrupelloser als in seinen ersten Jahren als Bundestrainer. Zum glänzenden Abschluss führte das aber nicht mehr.

Im Sommer wird der Isländer als Nationaltrainer in Japan anheuern und nur noch aus der Ferne beobachten, wie die Entwicklung der deutschen Mannschaft voranschreitet, die er mit seiner kühl wirkenden, aber lange sehr erfolgreichen Art auf ein höheres Niveau gehoben hat. Sein Nachfolger - vieles spricht dafür, dass der Leipziger Christian Prokop bald offiziell präsentiert wird - kann auf dieser Basis aufbauen. Er und die Spieler müssen allerdings Lehren aus dem Blackout des Teams im Spiel gegen Katar ziehen. Schließlich bleiben die hohen Ziele der Mannschaft bestehen: Eine Medaille bei der Heim-WM 2019 und Olympiagold 2020.

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