Ankara trickst europäische Kontrolle aus
Mit neuen Dekreten reagiert die türkische Regierung auf ausländische Kritik, ohne substanziell etwas zu ändern
Einen Vorteil hat das derzeitige Ausnahmerecht in der Türkei schon, Präsident und Regierung können rasch reagieren, zum Beispiel wenn es darum geht, Kritik am Ausnahmerecht abzuwehren. Da muss nicht mühsam ein Gesetz geändert werden, ein einfacher Erlass tut es auch. So jüngst geschehen mit der 30-tägigen Polizeihaft, also der Zeit, die jemand von der Polizei auf der Wache festgehalten werden kann, ohne dass ein Richter prüft, ob ausreichende Gründe für eine Untersuchungshaft vorliegen.
Als eine Debatte in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates über den Zustand der Demokratie in der Türkei anstand, bei der die unverhältnismäßig lange Polizeihaft ein wichtiges Thema gewesen wäre, wurde die im Sommer eingeführte Bestimmung rasch durch eine neue ersetzt. Zwar war noch immer eine Mehrheit von 94 zu 68 Stimmen dafür, die Türkei auf die Tagesordnung zu setzen, doch die nötige Zweidrittelmehrheit wurde verfehlt.
Dabei hatten die Parlamentarier, die gegen die Behandlung gestimmt hatten, die neue Regulierung wohl nicht richtig gelesen oder wollten es so genau nicht wissen. Die Frist in der ein Beschuldigter ohne richterliche Kontrolle festgehalten werden kann, wurde auf sieben Tage festgesetzt. Was noch immer ungewöhnlich lang ist. Wenn es schwierig ist, die Beweise zu sammeln oder »weil die Zahl der Verdächtigen groß ist«, darf diese Frist um weitere sieben Tage verlängert werden. Wenn es sich um eine Untersuchung im Rahmen des Antiterrorkampfes handelt, gilt die bisherige Regelung weiter. Angesichts der sehr weit gefassten Definition von Terrorismus ist das der Normalfall bei politischen Delikten.
Mit demselben Erlass, der die kosmetischen Änderungen an der Polizeihaft betraf, wurden auch zwei Fernsehkanäle wegen »Unterstützung von Terrorismus und Unvereinbarkeit mit der nationalen Sicherheit« verboten. Die regionalen Sender richteten sich vor allem an Mitglieder der alevitischen Minderheit in der Türkei. Kurz zuvor hatten alevitische Vereine erklärt, dass sie bei dem Referendum über die Erweiterung der Befugnisse des Präsidenten ein Nein empfehlen werden. Der sozialdemokratische Abgeordnete Baris Yarkadas kommentierte die Schließung mit den Worten: »Jeder, der nicht denkt wie die Regierungspartei, wird zum Terroristen erklärt«.
Mit einem weiteren Trick versuchen Regierung und Parlament offenbar, Klagen vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vorzubeugen. Eine Kommission soll prüfen, ob unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes Beamte zu Unrecht entlassen wurden. Die Kommission soll aus sieben Personen bestehen, von denen fünf von der Regierung eingesetzt werden. Nur drei Mitglieder sollen Juristen sein. Die sieben sollen nun bis zu 95.000 Fälle prüfen.
Mit der Einrichtung der Kommission wird vor allem der innere Rechtsweg verlängert. Nur wer alle nationalen rechtlichen Möglichkeiten ausgeschöpft hat, kann sich an das Straßburger Gericht wenden. »Auf diese Weise gibt es in zehn Jahren keine Entscheidung in Straßburg«, prophezeit Kerem Altipark, Dozent für politische Wissenschaft in Ankara. In der Zwischenzeit sind die Entlassenen zum großen Teil mittellos. Es kommt hinzu, dass in dem bereits erwähnten Erlass eine weitere Möglichkeit enthalten ist, Beamte zu entlassen, wenn sie sich Gruppierungen anschließen, die die Unabhängigkeit oder Einheit des Landes schädigen oder die nationale Sicherheit gefährden.
Immerhin enthält der neue Erlass auch eine Einschränkung für die Polizei. Ein Polizist, der unachtsam mit seiner Waffe umgeht und deshalb jemanden tötet, darf zwei Jahre lang nicht befördert werden. Man kann diese Bestimmung allerdings auch anders lesen: Es steht nicht zur Debatte, dass er entlassen wird, und vermutlich werden seine Vorgesetzten nach einem Gesetz von 1916 auch verhindern, dass gerichtlich gegen ihn vorgegangen wird. Vielleicht hätte die Parlamentarische Versammlung des Europarates den Erlass doch besser ganz gelesen.
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