Balkanroute wird vom Korridor zur Sackgasse für Flüchtlinge
Die Grenzen auf dem Balkan sind weitgehend dicht - und die Geschäfte der Schlepper brummen
Im Geäst der kahlen Pappel im Auffanglager im serbischen Sid krächzen schwarze Krähen. Niedergeschlagen erzählt der schlaksige Pakistani Kamran, wie sein schweigsamer Gefährte neben ihm zu seinem Gipsarm kam. »Gut 20 Mal« hätten sie vergeblich versucht, zu Fuß über die abgezäunte Grenze nach Ungarn zu gelangen. Schließlich hätten sie ihr Grenzgängerglück als blinde Passagiere des Zugs nach Budapest versucht. Hinter dem Zaun seien sie noch vor der ungarischen Grenzkontrolle in einem Wald abgesprungen.
Doch der Zug sei zu schnell, der Sturz zu hart gewesen: »Mein Freund brach sich drei Finger. Wir konnten nicht weiter – und mussten uns selbst der Polizei stellen.« Aufhalten wollen sich die danach erneut nach Serbien abgeschobenen Pakistani auf dem Weg zum anvisierten Ziel Italien jedoch nicht: »Wir werden es wieder und wieder versuchen - bis wir es schaffen.«
Monate im Durchgangslager
»One-Point-Stop« prangt auf dem Schild am Eingang des Lagers im Schatten der mächtigen Weizensilos von Sid unweit der kroatischen Grenze. Im Herbst 2015 eröffnet sollte das damalige Durchgangslager den Tausenden von Transitflüchtlingen, die täglich mit den Bussen von der rund 500 Kilometer entfernten Grenze zu Mazedonien zum Bahnhof von Sid rollten, nur als Rastplatz für einige Stunden oder wenige Tage bis zu ihrer Weiterfahrt per Zug nach Kroatien und Slowenien dienen.
Inzwischen verbleiben die Menschen meist mehrere Monate in dem völlig überfüllten Lager, berichtet mit müdem Blick der Lagerleiter Nenad Milanov: »Vor der Schließung der Balkanroute war Serbien ein Transitland, durch das eine Million Flüchtlinge zogen. Nun sind wir für sie zur Sackgasse geworden.«
Umdenken in Europa
Entsetzt hatte Europas Öffentlichkeit im Sommer 2015 auf die Bilder von über Grenzwiesen geprügelten Flüchtlingen, an Strände gespülte Kinderleichen oder von in Lastwagen erstickten Schlepperopfern reagiert. Es war die Kritik der EU-Partner, die die Anrainer der Balkanroute von Griechenland bis Österreich einen relativ sicheren Transportkorridor errichten ließen. Doch bald hoffnungsvoll überfüllte Aufnahmelager sollten im Herbst 2015 in Westeuropa rasch zu einem Stimmungsumschwung führen.
Im Februar letzten Jahres begann eine internationale Polizeitruppe der Anrainer- und Visegrad-Staaten unter Wiener Regie und gegen den Willen Athens im mazedonischen Gevgelija den Korridor an der Grenze zu Griechenland abzuriegeln. Statt mehrerer tausend konnten bald nur noch wenige hundert Menschen pro Tag die Pforte zur Balkanroute passieren. Im Süden der neu errichteten Stacheldrahtzäune sollten auf den Feldern von Idomeni bald mehr als 10.000 gestrandeter Transitflüchtlinge biwakieren. Erst traf der Einreisebann die von Kriegs- zu Wirtschaftsflüchtlingen umdefinierten Afghanen, dann Iraker und Syrer: Auf der gesamten Balkanroute verwandelten sich die Grenzer von kurzzeitigen Flüchtlingshelfern wieder zu deren gestrengen Wächter. Das Mittelmeer ist nun die wichtigste Route gen Westen.
Kälte schreckt nicht ab
Eine leichte Brise streicht über die leer gefegten Gleise des Bahnhofs von Sid. Ein Grenzbeamter in blauer Uniform erinnert sich mit einem Achselzucken, wie er vor einem Jahr noch gemeinsam mit kroatischen Kollegen die Flüchtlinge in die Züge verlud: »Damals halfen wir ihnen weiter, nun versuchen wir, sie aufzuhalten.« Doch selbst von der eisigen Kälte der letzten Wochen hätten sich die Grenzgänger nicht schrecken lassen: »Sie versuchen es immer wieder: Wir zogen sie selbst noch bei minus 15 Grad zitternd aus den Lastwagen.« Meist versuchten Schlepper ihre Kunden per Lastkraftwagen über die Grenze zu schleusen: »Die Fahrer wissen oft nichts davon. Die Plomben der Frachträume werden aufgebrochen, wenn sie auf den Parkplätzen schlafen – und dann mit einer Nadel provisorisch von außen geschlossen. Flüchtlinge sind zu einem Geschäft geworden.«
Druck auf der Balkanroute
Seit der Schließung der Balkanroute sollen noch mehr als 100.000 Transitflüchtlinge durch Serbien in Richtung Westen geschleust worden sein. Doch auch der Flüchtlingspakt mit der Türkei und die rigide Verschärfung des ungarischen Grenzregimes im letzten Sommer hat die Balkanpassage merklich erschwert. Nicht nur regelmäßige Verhaftungen von Schleppern, sondern auch brechend volle Aufnahmelager und der Andrang in den »wilden« Lagern wie am Belgrader Bahnhof zeugen vom anhaltenden Druck auf der Balkanroute: Seit deren Abriegelung laufen die Geschäfte der Schlepper auf vollen Touren.
Zug nach Westen machte glücklich
Mit seinen 20.000 Einwohnern zähle Sid mittlerweile 2000 Flüchtlingen in drei Lagern, berichtet Nenad Milovanov: »Größere Probleme gab es hier noch nicht, aber irgendwann ist die Grenze des Möglichen erreicht.« Als die Flüchtlinge noch weiterreisen konnten, sei die Arbeit im Lager »für alle angenehmer« gewesen, seufzt der gelernte Koch: »Wenn sie hier die Züge nach Westen besteigen konnten, waren sie glücklich – und wir auch.« Nun kehrten seine Schützlinge bei ihren Versuchen, die nahe kroatische oder ungarische Grenze zu überqueren, oft übel zugerichtet zurück: »Die Prügel der Grenzer sind eine bewusste Botschaft an alle anderen, die Grenzpassage erst gar nicht zu versuchen.«
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