Polen verweigert Tusk Unterstützung für zweite Amtszeit
Warschau nominiert Europaabgeordneten Saryusz-Wolski für EU-Ratspräsidentschaft / Tusk könnte dennoch gewählt werden
Warschau. Es ist ein bislang einmaliger Vorgang: Die nationalkonservative Regierung in Polen verweigert dem polnischen EU-Ratspräsidenten Donald Tusk die Unterstützung für eine weitere Amtszeit. Stattdessen nominierte Warschau den Europaabgeordneten Jacek Saryusz-Wolski für den Brüsseler Spitzenposten, wie Außenminister Witold Waszczykowski am Samstag der Nachrichtenagentur PAP sagte. Rückendeckung erhielt Tusk, der sich voraussichtlich kommende Woche für eine weitere Amtszeit zur Wahl stellt, aus Brüssel.
Kurz vor Waszczykowskis Ankündigung hatte die Führung der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS) die Regierung aufgefordert, »entschieden« Stellung gegen eine Wiederwahl Tusks zu beziehen.
In einer Erklärung warf die PiS-Führung dem Ratspräsidenten vor, »gegenüber dem EU-Mitgliedsland Polen das Gebot der Neutralität verletzt zu haben«. Tusk habe sich an der Spitze des Rats wiederholt gegen polnische Interessen gestellt und die Opposition in seinem Heimatland unterstützt.
Mit ihrem Schritt brüskierte die polnische Regierung ihren Landsmann in Brüssel. Der ehemalige polnische Ministerpräsident Tusk stammt aus der liberal-konservativen Bürgerplattform und damit aus einem anderen politischen Lager als die gegenwärtige Regierung, die wiederholt Distanz zu ihm demonstriert hat.
Bislang wurden alle Ratspräsidenten der EU mit der ausdrücklichen Unterstützung ihrer Heimatregierung ins Amt gewählt. Zwingend erforderlich ist diese Unterstützung allerdings nicht: Für die Wahl reicht im EU-Rat eine qualifizierte Mehrheit. Polen könnte beim EU-Gipfel kommende Woche also überstimmt werden. Unter anderen EU-Ländern genießt Tusk, der für eine weitere zweieinhalbjährige Amtszeit kandidiert, großen Rückhalt.
»Tusk sollte nicht das Opfer der Bestrebungen seines eigenen Landes werden, ihn loszuwerden. Das wäre nicht richtig«, hieß es aus französischen Diplomatenkreisen. »Tusk ist in einer sehr starken Position«, erklärte ein anderer europäischer Diplomat. Auch der Vorsitzende der Europäischen Volkspartei (EVP), Joseph Daul, stärkte Tusk den Rücken. Die EVP-Familie stehe »geschlossen« hinter dem EU-Ratspräsidenten, schrieb Daul im Onlinedienst Twitter.
Polens Außenminister Waszczykowski erklärte hingegen, er könne sich nicht vorstellen, dass die anderen EU-Staaten einen Kandidaten unterstützten, »der nicht die Unterstützung der eigenen Regierung hat«.
Der Warschauer Ersatzkandidat Saryusz-Wolski entstammt wie Tusk der polnischen Bürgerplattform; diese hat sich zuletzt aber von ihm distanziert. Der 68-jährige promovierte Wirtschaftswissenschaftler gehört seit 2004 der EVP-Fraktion im Europaparlament an und war bis 2007 auch einer der Vizepräsidenten des EU-Parlaments.
Auf nationaler Ebene war Saryusz-Wolski in den 1980er Jahren in der Gewerkschaft Solidarnosc aktiv und einer ihrer stellvertretenden Pressesprecher. Nach dem Fall des Kommunismus wurde er 1991 der erste Regierungsbevollmächtigte für europäische Integration.
Ein Manko von Saryusz-Wolski dürfte sein, dass er niemals Regierungschef war. Das ist zwar nach dem EU-Vertrag keine notwendige Bedingung, wurde aber bei den vorangegangenen Ratspräsidenten immer vorausgesetzt. Zu den Aufgaben des Ratspräsidenten zählt, die 28 Staats- und Regierungschefs der EU bei Gipfeln auf Linie zu bringen.
Das Verhältnis zwischen Warschau und Brüssel hat sich seit dem Amtsantritt der nationalkonservativen Regierung, die 2015 eine von der Bürgerplattform geführte Koalition ablöste, deutlich verschlechtert. Einer der großen Streitpunkte ist die Stellung des polnischen Verfassungsgerichts, dessen Unabhängigkeit die EU durch eine Reihe umstrittener Maßnahmen der polnischen Regierung gefährdet sieht.
Die EU-Kommission hatte im Januar vergangenen Jahres eine Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit in Polen eingeleitet. Brüssel wirft Warschau vor, rechtswidrig die Ernennung mehrerer Verfassungsrichter rückgängig gemacht und Beschlüsse des Gerichts missachtet zu haben.
Nach mehreren erfolglosen Ermahnungen und Dialogversuchen droht Warschau nun die Einleitung einer weiteren Verfahrensstufe, die bis zum Stimmrechtsentzug in der EU führen kann. Die polnische Regierung zeigte sich davon bislang unbeeindruckt, die Einwände aus Brüssel weist sie als ungerechtfertigt zurück. AFP/nd
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