Freiheit auf zwei Rädern
Auf der Berliner Fahrradschau zeigen Frauen, dass Radfahren auch politisch sein kann
In den Hallen der Berliner Fahrradschau drängen sich Standbox an Standbox. In ihnen aufgereiht sind Fahrräder, Reifen, Pumpen, Schutzbleche, Taschen, Trikots, Helme in allen Farben und aus den verschiedensten Materialien: Stahl, Aluminium, Gummi, Holz. Räder werden präsentiert - mit und ohne Elektromotor, hier die schlichten leichten ohne Schnickschnack, dort die für schwere Lasten in allen erdenklichen Varianten.
Pünktlich zum frühlingshaften Wetter zeigen am ersten Märzwochenende auf der Berliner Fahrradschau große und kleine Fahrradmarken, Rahmenbauer und Kleidungshersteller, was sie können. Zusammen mit dem Rahmenprogramm »Berlin Bicycle Week« zieht die Schau zum achten Mal in einem stillgelegten Postbahnhof in Kreuzberg viele Besucher an. Sie soll dabei einen Querschnitt der gesamten Fahrradszene zeigen, sagt Geschäftsführer Fares Gabriel Hadid. Das Motto der Berliner Fahrradschau ist dieses Jahr »Cycling unites« - Radfahren verbindet. Aus diesem Grund wird an diesem Wochenende Frauen, die Fahrrad fahren, Radsport betreiben oder in der Radindustrie arbeiten, mit Gesprächsrunden, Workshops und Reparaturwerkstätten ein Podium gegeben. »Die Berliner Fahrradschau ist offen für alle. Uns geht es um alle Facetten in der Radkultur«, sagt Daniela Odesser von der Berliner Fahrradschau. »Es gibt eine ganze Gemeinschaft, für die das ein Thema ist, und deswegen ist es auch ein Thema für uns.«
An einem Junitag des Jahres 1817 unternahm Karl Freiherr von Drais die erste Fahrt auf seiner »Laufmaschine«: Von Mannheim bis zur Schwetzinger Relaisstation lief der Forstbeamte auf einem aus Eschenholz gefertigten Gefährt mit 27-Zoll-Rädern, Schleifbremse und Gepäckträger hinter dem höhenverstellbaren Sattel.
Dank späterer Verbesserungen wie Kurbel, Luftreifen und Gangschaltung legte das Fahrrad im 20. Jahrhundert eine Erfolgsstory hin. Dem Freiherrn und seiner Erfindung wird anno 2017 an verschiedenen Orten gehuldigt, so mit großen Ausstellungen wie »2 Räder – 200 Jahre Geschichte im »Technoseum« Mannheim (bis 25. Juni), im Deutschen Fahrradmuseum in Bad Brückenau (Unterfranken) oder ab September im Verkehrsmuseum Dresden.
Selbst im Auto-besessenen Deutschland hat das Verkehrsmittel Fahrrad ordentlich Karriere gemacht. Laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) rollen heute hierzulande 72 Millionen Fahrräder über die Straßen, womit die 45 Millionen Pkw zumindest nominell klar übertrumpft werden. Weltweit sollen mittlerweile mehr als anderthalb Milliarden Fahrräder regelmäßig im Einsatz sein. Längst wird mit Velos ordentlich Umsatz gemacht: Mehr als fünf Milliarden Euro setzt die deutsche Fahrradindustrie laut ZIV jährlich um, mehr als vier Millionen Räder werden pro Jahr verkauft.
In 68,5 Prozent der Haushalte gibt es mindestens ein Fahrrad. Stolze 98 Prozent der Deutschen können Radfahren, das geht aus dem 2015 fürs Bundesverkehrsministeriums erstellten »Fahrradmonitor« hervor. Mit der Umfrage, die alle zwei Jahre abgehalten wird, soll die Umsetzung des »Nationalen Radverkehrsplans 2020« überprüft werden. Im Plan wird ein Radverkehrsanteil von 15 Prozent als Ziel formuliert.
Allerdings zeigte der »Fahrradmonitor« vor fast zwei Jahren einen bedenklichen Trend auf: Gegenüber 2011 fiel die Beliebtheit des Fahrrads von »gut« auf das Niveau »befriedigend«: Während im Jahr 2011 nur 34 Prozent angegeben hatten, so gut wie nie aufs Fahrrad zu steigen, waren es vier Jahre später schon 38 Prozent. Fast die Hälfte der Radfahrer fühlt sich laut »Fahrradmonitor« demnach im Straßenverkehr nicht sicher: Zwei Drittel der Befragten bemängeln »zu wenige Radwege« und insgesamt »zu viel Verkehr«.
Verglichen mit solchen Vorzeigenationen wie den Niederlanden oder Dänemark, wo fast ein Drittel des individuellen Straßenverkehrs mit dem Velo zurückgelegt wird (30 Prozent), ist das Land des Fahrraderfinders noch ziemlich rückständig: Hierzulande liegt der Anteil bei etwa zehn Prozent. jig
Tamara Danilov von der Gruppe She36 sagt, es sei ihr wichtig, dass »Frauen als Teil des Programms sichtbar gemacht werden«. Selbstverständlich sei das nicht. Auf Veranstaltungen wie der Berliner Fahrradschau seien Frauen kaum präsent. Es sei denn, man zähle sogenannte »Podium Girls« dazu, also Frauen, die leicht bekleidet neben teuren Rädern posieren. She36 ist »eine Gruppe für Mädels die Fixed-Gear-Räder fahren, regelmäßig Tricks üben und sich für verschiedene soziale Projekte engagieren«, sagt Tamara Danilov, die vor zweieinhalb Jahren das Projekt ins Leben rief. Angelehnt ist der Name an SO36, der alten Postleitzahl von Kreuzberg. Das Radfahren war für sie eine »schnelle, intensive Liebe. Ich hatte nur keine Fahrradfreundinnen und fühlte mich unwohl in der männerdominierten Szene.« Deswegen gründete sie ihre eigene Gruppe und schaffte sich damit ihren eigenen Raum in der Szene.
»Wir haben uns geärgert, als wir bei der Fahrradschau 2016 gesehen haben, wie ›Podium Girls‹ als Objekte mit ihrem Körper Teil der Werbung sind«, sagt Danilov. Also haben sie sich an die Veranstalter gewandt. »Wir wollten uns aber nicht nur beschweren, sondern auch vorschlagen, was besser gemacht werden kann«, sagt Kate Lichter von She36. So kam die Zusammenarbeit der Gruppe mit anderen internationalen Initiativen auf der Fahrradschau zustande, die nun in Gesprächsrunden den Sexismus der Branche anprangern und Lösungsvorschläge diskutieren. Die Frage, die sie beschäftigt: »Wie können wir Frauen mehr einbinden und mehr zum Radsport bringen, der immer noch Männerdomäne ist?«
Und sie reden nicht nur, sondern zeigen auch, was sie draufhaben: Kate Lichter hält die Pedalen ihres Eingangrads in der Waage, tritt leicht vorwärts und rückwärts, bleibt mit ihrem Rad auf der Stelle stehen und fährt dann eine kurze Strecke rückwärts. Sie zeigt einen »Trackstand«, Bahnradsportler nennen das Stehversuch. Besucher können solche Tricks beim Fixed-Gear-Workshop selbst lernen, den She36 auf der Fahrradschau organisiert hat.
Um mehr Frauen für das Radfahren zu begeistern hat Lichter eine »Wall of Femme« auf der Fahrradschau aufgestellt. Auf dieser Ruhmeswand werden anhand von Interviews Frauen vorgestellt, die sich in allen Aspekten der Radkultur engagieren: von der Mechanikerin zur Gründerin von Initiativen, Kurierin und Leistungssportlerin, in Deutschland und auch weltweit. In den Interviews erklären die Frauen, wie sie zum Radfahren gekommen sind und was es für sie bedeutet. Die häufigsten Antworten: »Freiheit« und »Unabhängigkeit«.
Die »Wall of Femme« soll Besucherinnen inspirieren und Vorbilder sichtbar machen. Die Bikerinnen wollen damit den Menschen einen Raum geben, die in Radsportzeitschriften, auf Podiumsdiskussionen und in Fahrrad-Blogs kaum auftauchen. »Die Fahrradindustrie profitiert vom Sexismus in der Branche, indem sie mit weiblichen Körpern Fahrräder verkauft«, sagt Flora Suen von She36. Die Gruppe steht als Gegenpol dazu, als eine »Gemeinschaft für Frauen, queere Menschen und alle die sich als Frauen sehen und voneinander in angenehmer Atmosphäre lernen wollen«, wie Suen erklärt. Auf der Messe bieten sie deshalb mit der Initiative »London Bike Kitchen« Werkstätten an, in denen Frauen lernen, ihre Bremsen zu reparieren, Schläuche zu flicken, ihre Räder instand zu halten. Sie wollen Menschen, die damit bisher wenig Erfahrung haben, an die Fahrradmechanik heranführen und vermitteln Kenntnisse, damit Fahrerinnen unabhängiger werden.
In Gesprächsrunden tauschen sich Frauen aus, die beim Radfahren gemerkt haben, dass es so gut wie keine Fahrräder oder passende Kleidung für sie gab. Sie wollten nicht einfach alles in »klein und pink« haben, aber auch nicht weiterhin die Männerprodukte kaufen, und haben sich entschlossen, es selbst in die Hand zu nehmen. Dazu gehören beispielsweise die Kölnerin Eva Mohr und ihre Marke »All That I Want«. Mohr betont, dass Frauen als Zielgruppe in der Radindustrie kaum wahrgenommen werden und deswegen jetzt selbst die Produkte entwickeln, die sie auch wollen. »Es geht auch darum Frauen und ihre Bedürfnisse sichtbarer zu machen.« Es sei wichtig, Vorbilder zu zeigen, mit denen sich Menschen identifizieren können. Sie sollen auch als Inspiration dienen.
Auch Carolyn Gaskell aus London hatte die Erfahrung gemacht, dass viele der Frauenräder qualitativ schlechter und viel schwerer gebaut sind. Auch das Material der Frauentrikots sei stets schlechter als das der Männer gewesen. Deswegen stellt sie nun ihre eigene Fahrradkleidung mit »Velocity« her. »Wir schwitzen genauso wie Männer, wir leiden genauso bei Rennen«, sagt sie. Also haben Frauen auch die gleiche Qualität verdient.
Die Italienerin Francesca Luzzana, von der Firma Cinelli, betont, dass die Produktion noch immer vorwiegend an die Bedürfnisse von Männern angelehnt sei. Sie fordert deswegen, dass die Firmen die Produkte, die auf Frauen zugeschnitten sind, mit ihnen gemeinsam entwerfen. Damit am Ende nicht alles in »klein und pink« erscheine. Ihrer Meinung nach müsse eine Veränderung innerhalb der Fahrradindustrie beginnen.
Auch Radsportlerinnen tauschen sich an diesem Wochenende aus und berichten von den Herausforderungen für Frauen. Das Radteam »Velonista« gründete sich vor vier Jahren in Berlin. Cornelia Brückner vom Team berichtet, dass ihr Team eines der ersten war, das Frauenrennen in der Umgebung organisierte. Wie viele Amateur-Teams haben auch die »Velonista« Schwierigkeiten, Sponsoren zu finden. Schließlich müssten sie alles selbst organisieren und bezahlen. Und Radfahren sei eben ein sehr teurer Sport.
Einige Stunden später macht Kate Lichter keine Stehversuche mehr. Jetzt sprintet sie. Das »Rad Race« ist Teil der »Berlin Bicycle Week«. Damit wolle man »alte Krusten aufbrechen in der alten Radsportindustrie«, sagt Daniela Odesser von der Berliner Fahrradschau. »Wir hatten keinen Bock mehr auf langweilige Radrennen, bei denen die Zuschauer stundenlang warten, bis die Sportler in nur zwei Sekunden vorbeirasen«, sagt Taha Sonnenschein. Also organisiert er mit Freunden seit vier Jahren unter dem Motto »Stop Racism. Start Raceism« das »Rad Race«, bei dem an diesem Samstag auf der Kartbahn in Berlin-Neukölln auch Lichter antritt. »Wir wollten neue Formate, die den verstaubten Radsport durchwirbeln«, sagt Sonnenschein. Jede Frau, die sich anmeldet, kann eine Freundin kostenlos mit an den Start bringen. »So wollen wir erreichen, dass mehr Frauen an den Rennen teilnehmen«, sagt Sonnenschein. Die Zahl der Teilnehmerinnen habe sich in vier Jahren bereits verdreifacht.
Kate Lichter kommt am Ende ins Finale. Eine andere gewinnt zwar, doch Lichter ärgert sich nicht. Sie will Vorbild sein. »Wir wollen, dass Frauen und Mädchen sich freier mit dem Rad ausprobieren, mutiger sind, Fehler zu machen und keine Angst haben mal zu scheitern«, sagt sie. »Und wenn man hinfällt, einfach weitermachen.«
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