Kreative mischen das »Sächsische Manchester« auf

Junge Künstler hauchen leerstehenden Gebäuden in Chemnitz neues Leben ein

  • Robert B. Fishman
  • Lesedauer: 7 Min.

Während sich der Himmel langsam violett färbt, leuchten gelbe, grüne und blaue Scheinwerfer die Nacht über Chemnitz ein. Rissige, grau-braune Fassaden verfallender Fabrikbauten reflektieren das bunte Licht. Jahrzehnte des Stillstands haben den Putz von den Mauern gefressen.

»Es ist Zeit, hier herzuziehen«, sagt Eva, die junge Künstlerin mit den kurzen blonden Haaren. Verträumt blickt die 29-Jährige ins Leere, während sie von ihrem Kunststudium in Weimar und ihrer Jugend in Dresden erzählt. »Dort ist alles fertig, die Menschen sind satt. Jedes Angebot kostet Geld.« Kultur werde den Besuchern in der nahen Landeshauptstadt nach dem Motto »Friss oder stirb« vor die Nase gesetzt.

»Ordnung ist das halbe Leben, Schaukeln die andere«, hat Eva ihr Kunstwerk genannt: Acht in einem Oktagon angeordnete Schaukeln, die zusammenstoßen, wenn die Nutzer nicht aufeinander achten. Seit Tagen beobachtet Eva die Besucher der Kunstausstellung »Begehungen«. Sie ist »begeistert von der Achtsamkeit« der meisten. Einige setzen sich und beobachten, andere schaukeln drauf los. Ihr Werk versteht sie als Modell einer utopischen Gesellschaft, in der Menschen ihr Zusammenleben rücksichtsvoll miteinander aushandeln.

»Eine Macherstadt«, urteilt nicht nur Eva über Chemnitz. »Die Leute drehen sich nicht weg, wenn Du ein Problem hast. Sie schauen in ihren Rucksack oder in ihr Telefonbuch, um zu helfen.«

30 000 Wohnungen standen in Chemnitz zu Beginn dieses Jahrhunderts leer. Das einst wegen seiner Maschinenbau-, Motoren- und Textilindustrie »Sächsisches Manchester« genannte Wirtschaftszentrum drohte zu verfallen. 1945 hatten amerikanische Bomber das Stadtzentrum in Schutt und Asche gelegt. Bis dato eine der reichsten Städte Deutschlands hatte Chemnitz damit, wie Stadtführerin Veronika Leonhardt sagt, »die Seele verloren«.

Sie selbst wurde in Karl-Marx-Stadt geboren, die Chemnitz zu DDR-Zeiten hieß. Anfang der 50er Jahre erkor die Regierung die zerbombte Arbeiter- und Industriemetropole zur sozialistischen Musterstadt: breite Alleen, sieben-, acht- und zehngeschossige Plattenbauten, weite, gepflasterte Plätze und das Karl-Marx-Denkmal entstanden. Der 40 Tonnen schwere und sieben Meter hohe Kopf schaut heute jungen Skatern und Bikern zu, die auf den Betonplatten unter dem »Nischel«, wie er liebevoll auf Sächsisch genannt wird, ihre Runden drehen.

Industrialisierung, Gründerzeit, Jugendstil, Bauhaus, sozialistischer Plattenbau und Postmoderne: Die Epochen der vergangenen 200 Jahre haben in Chemnitz ihre Spuren hinterlassen. So entstand ein Baumix: das heutige Museum Gunzenhauser von 1930, das ehemalige Kaufhaus »Schocken« im Stil der Neuen Sachlichkeit, die Stadthalle aus den 1970ern, weitläufige Industrieareale aus dem 19. Jahrhundert und Nachwendebauten, wie der Glaspalast vom »Kaufhof«, dessen Fassade das Neue Rathaus von 1911 und das wieder aufgebaute alte aus der Renaissance reflektiert.

Mehr als 300 000 Einwohner zählte Karl-Marx-Stadt. 50 000 weniger sind es heute in Chemnitz. »Ich dachte, die ganze Stadt sei leer«, erinnert sich der spanische Künstler Agustin Garcia an seinen ersten Eindruck von der Stadt. »Die Schließung der vielen Großbetriebe muss die Menschen tief getroffen haben«, vermutet der 29-Jährige. Dann entdeckte er mit seiner Partnerin Nina Langwehn »die vielen freien Flächen und Möglichkeiten« wie die ehemaligen Spinnereimaschinenwerke im Stadtteil Altchemnitz. Die beiden jungen Künstler bauten im Rahmen des jährlichen Festivals »Begehungen« ihre Installation Happy Losers neben Eva Oliviens Schaukeln auf.

»Hier gibt es keinen Kurator, der uns Vorschriften macht«, freut sich Kunststudentin Nina. »Wir haben hier alle Freiheiten.« Jeden Sommer bespielen die »Begehungen« leerstehende Häuser, Läden und Fabrikgebäude mit Kunstinstallationen und Performances.

Wo Platz fehlt, hilft Lars Fassmann. An die 30 leerstehende Häuser und Fabrikgebäude hat der stille, kräftige Mann zusammen mit seiner Partnerin, einer Designerin, gekauft. Die meisten waren schon zum Abriss freigegeben: undichte Dächer, brüchige Zwischendecken, zerschlagene Fenster. Fassmann kaufte sie zum Grundstückspreis und ließ nur das Nötige wie Dach und Leitungen reparieren oder ersetzen. Statt Laminat zu verlegen und neue Türen einzubauen, renovierte er, wo möglich, das Alte. »Das ist auf Dauer kostengünstiger«. Die so sanierten Gebäude vermietet er zu moderaten Preisen gerne an Künstler und andere Kreative.

Die Nutzer des »Lokomov« zahlen nur die Nebenkosten. So kann der gleichnamige Klub im Erdgeschoss Ausstellungen, Filmabende und Konzerte organisieren. Auch ein ehemaliges Sparkassengebäude hat Fassmann übernommen. Dort ziehen Wohngemeinschaften, junge Unternehmen und ein Coworking-Space ein: Büros, die Menschen gemeinsam nutzen, um Kosten zu sparen, sich auszutauschen und miteinander zu vernetzen.

Als Wohltäter versteht sich der 38-jährige Unternehmer nicht - eher als jemand, der langfristig rechnet. »Künstler«, überlegt Fassmann, »sind Leute mit Ideen. Sie bringen die Stadt weiter.« So entstehe eine Dynamik, die neue Interessenten anlocke. »Wir investieren in unsere eigene Lebensqualität«, ergänzt Fassmanns Partnerin - und in den Wert der Immobilien. Auf die Prognosen der Bevölkerungsforscher geben die beiden Investoren nicht viel. Lange galt Chemnitz als sterbende Stadt. Inzwischen ist die Abwanderung gestoppt. Die Arbeitslosigkeit ist unter die Zehn-Prozent-Marke gesunken.

An einer Bushaltestelle im Stadtteil Brühl hängt ein buntes Plakat: »Ein Fahrrad für 300 Euro«, verspricht ein Immobilienunternehmen neuen Mietern. Wer schon mal in Berlin oder in westdeutschen Großstädten eine Wohnung gesucht hat, glaubt zu träumen. Vermieter zahlen dafür, dass sie leerstehende Wohnungen an Mann oder Frau bringen.

»Brühl Boulevard« steht in verblassender Schrift über der einst beliebtesten Einkaufsstraße der Region. Nach dem Ende der DDR verfiel das Viertel - bis Leute wie Guido Günther kamen. Der junge Mann mit langen Haaren und Vollbart hat mit ein paar Freunden »Rebel Art« gegründet. Im Auftrag von Firmen, Hausbesitzern und Kommunen bemalen sie Fassaden mit bunten Graffitis. »Anfangs konnten die Leute damit gar nichts anfangen«, erinnert sich Günther. »Inzwischen läuft es gut.« Als Brühlpioniere bewohnen die Freunde über ihren Geschäftsräumen und Ateliers eines der frisch sanierten Häuser am Boulevard. Die Gebäude im Stadtteil gehörten bis zum Ende der DDR der Kommunalen Wohnungsverwaltung KWV. Dann übernahm sie die städtische Wohnunungsbaugesellschaft GGG. Sechs Häuser hat die GGG für »Projekte« wie die Brühlpioniere reserviert: Künstlerateliers, Wohngemeinschaften, kleine, kreative Unternehmen. Günter gründete mit seinen neuen Nachbarn und Mitbewohnern eine Genossenschaft, die das 1400 Quadratmeter große Eckhaus für 125 000 Euro gekauft hat. Gemeinsam sanieren die Brühlpioniere ihr neues Domizil. Unten soll eine Galerie einziehen, außerdem Gastateliers für auswärtige Künstler und im Dachboden Arbeitsräume für die Gemeinschaft.

Für die Entwicklung des innenstadtnahen Viertels hat das Rathaus einen Quartiersmanager eingesetzt. Der Architekt und Stadtplaner Urs Luczak kam 2002 nach Chemnitz. Offiziell firmiert er als »Referent der Oberbürgermeisterin für besondere Projekte«. Seiner Chefin sei »der Brühl als Quartier der Möglichkeiten ein ernsthaftes Anliegen«, sagt er. Um die vielfältigen Interessen der Leute im Viertel auszugleichen, organisiert Luczak Eigentümer- und Nachbarschaftsstammtische. Auch für den Raumsoziologen Luczak ist die »geplante Entwicklung eines Kreativquartiers unter den Bedingungen der Marktwirtschaft« etwas Neues. In Chemnitz, wo so viele Kreative an der Zukunft ihrer Stadt mitarbeiten, stehen die Chancen für solche Vorhaben besonders gut.

Infos

Tourist Info: www.chemnitz-tourismus.de Tel.: (0371) 690 680

Chemnitz per Smartphone entdecken: chemnitz-entdecker.de

Ehemalige Spinnerei: spinnerei.me/

Lokomov: lokomov.de

Brühl: www.chemnitz-bruehl.de

Besonderer Tipp: An jährlich wechselnden Standorten feiert Chemnitz die Tage der Industriekultur. Das Kulturprogramm »Industriewelten« bietet Einblicke und Erlebnisse in ansonsten geschlossenen alten Industriegebäuden, 2017 auf dem 80 000 Quadratmeter großen Gelände der 200 Jahre alten Schönherr-Fabrik mit ihren Läden, Restaurants, Kneipen und Künstler-Ateliers. www.schönherr200.de und www.schoenherrfabrik.de

Allgemeine Infos zum Tourismus in Sachsen: www.sachsen-tourismus.de Tel.: (0351) 49 17 00

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