Erdogan spricht von »Sieg«, Opposition beklagt Manipulation

Türkischer Staatschef und nationalististische MHP feiern Zustimmung zu Präsidialsystem / Systematische Ausgrenzung der HDP bei Referendum beklagt

  • Lesedauer: 10 Min.

Update 22.35 Uhr: Wahlkommission: Ja-Lager hat gewonnen

Die türkische Wahlkommission hat das »Ja«-Lager nach dem vorläufigen Abstimmungsergebnis zum Sieger des Referendums über die Einführung eines Präsidialsystems erklärt. Nach dem vorläufigen Resultat habe das »Ja«-Lager gewonnen, sagte Kommissionschef Sadi Güven am Sonntagabend in einer im Fernsehen übertragenen Erklärung. Endgültige Ergebnisse werde es erst in einigen Tagen geben.

Update 20.25 Uhr: Rechte in der Türkei erklärt Erdogan zum Sieger

Präsident Recep Tayyip Erdogan und der Vorsitzende der ultranationalistischen MHP, Devlet Bahceli, haben das Ja-Lager zum Sieger des Referendums in der Türkei erklärt. »Unser edles Volk ist mit einer großen Reife an die Urnen gegangen und hat mit seinem freien Willen dem Übergang in ein Präsidialsystem zugestimmt«, sagte Bahceli nach Angaben der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu in Ankara. »Das ist ein sehr wichtiger Erfolg.« Bahceli rief die Gegner des Präsidialsystems dazu auf, einen Sieg des Erdogan-Lagers zu akzeptieren. »Jeder muss das respektieren.« Die MHP war über Bahcelis Unterstützung für das Präsidialsystem zutiefst gespalten.

Update 19.45 Uhr: HDP und CHP trauen staatlichen Zahlen nicht

Laut der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu liegt die Zustimmung zu Erdogans Präsidialsystem bei einer Auszählung von mehr als 95 Prozent der Stimmen bei 51,6 Prozent. Gegen das Präsidialsystem hätten bislang 48,4 Prozent gestimmt. Oppositionsvertreter in der Wahlkommission bestätigten diese Zahlen allerdings zunächst nicht. Der CHP-Vertreter in der Kommission, Mehmet Hadimi Yakupoglu, sagte der Deutschen Presse-Agentur, es seien bislang deutlich weniger Stimmen ausgezählt als von Anadolu vermeldet. Er sprach von »Manipulation«. Der Vertreter der pro-kurdischen HDP in der Kommission, Attila Firat, sagte, die Wahlkommission habe noch nicht annähernd so viele Stimmen ausgezählt. Das »Nein«-Lager könne noch gewinnen.

Update 17.45 Uhr: Auch Berlin wartet auf das Ergebnis

Die Abstimmung zur umstrittenen Verfassungsänderung in der Türkei hat in Berlin bis zum späten Sonntagnachmittag zu keinerlei Problemen geführt. Alles sei ruhig und friedlich, sagte ein Polizeisprecher am Sonntagnachmittag. »Wir merken davon nichts.« In manchen türkischen Cafés, Restaurants und Kneipen versammelten sich am Nachmittag entweder Anhänger oder Gegner von Erdogan, um vor Fernsehern die verschiedenen türkischen Nachrichtensendungen zu verfolgen. In einer Kneipe am Kottbusser Tor in Kreuzberg saßen 20 bis 30 Unterstützer der kurdisch-linken Partei HDP zusammen und sahen drei Fernsehsender gleichzeitig. Die Stimmung war friedlich, Prognosen über einen Ausgang des Referendums wollte keiner abgeben. Alle rechneten mit einem sehr knappen Ergebnis. Das Ergebnis der Abstimmung, mit der der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan seine autoritäre Macht ausbauen will, wurde für den späteren Abend erwartet, eine genaue Uhrzeit stand aber nicht fest. Die Türken, die in Deutschland leben, konnten bis zum vergangenen Sonntag ihre Stimme abgeben. 43,4 Prozent der in Berlin registrierten wahlberechtigten Türken nahmen an der Abstimmung teil. Die Stimmzettel wurden zur Auszählung in die Türkei gebracht.

Update 17.20 Uhr: Vorsprung des Ja-Lagers schrumpft

Nach Auszählung von rund der Hälfte der Stimmen liegt das Ja-Lager zwar immer noch vorn, aber der Vorsprung ist etwas zurückgegangen - auf etwa 56,5 Prozent. In den kurdisch geprägten sowie den westlich gelegenen Provinzen liegen die Nein-Voten vorn, die Auszählung in den größeren Städten dauert in der Regel länger, hier werden auch eher eine größere Zahl an Nein-Voten erwartet.

Update 17 Uhr: Ja-Lager liegt bisher vorn

Nach Auszählung von rund 33 Prozent der Stimmen liegt das Ja-Lager beim Referendum vorn - mit etwa 60 Prozent.

Update 16.40: Auszählung läuft, neue Kritik an Unregelmäßigkeiten

In der Türkei hat nach der Schließung der Wahllokale die Auszählung des historischen Volksentscheids über die Einführung eines Präsidialsystems begonnen. Derweil haben Menschenrechtler weitere Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe beim Referendum über ein Präsidialsystem in der Türkei beklagt. In einem Zwischenbericht des türkischen Menschenrechtsvereins IHD hieß es am Sonntag, in fünf Provinzen sei den Wahlbeobachtern des Vereins der Zutritt zu Wahllokalen verweigert worden. Zudem seien in den ost- und südosttürkischen Provinzen Agri, Erzurum und Adiyaman Wähler dazu gezwungen worden, offen abzustimmen. In Erzurum und dem osttürkischen Van hätten Soldaten und bewaffnete Dorfschützer Beobachter der pro-kurdischen Oppositionspartei HDP bedroht und von ihrer Aufgabe abgehalten. In der Hauptstadt Ankara sei ein offizieller Beobachter aus dem Wahllokal gezerrt worden. Die IHD kritisierte weiter, in der südosttürkischen Provinz Sanliurfa säßen in jedem Wahllokal zwei bewaffnete Polizisten. Grundsätzlich würden vor allem in kurdisch geprägten Regionen Sicherheitskräfte verstärkt eingesetzt. Diese hielten sich zudem nicht an die gesetzliche Regelung, wonach Sicherheitskräfte einen Abstand von mindestens 15 Metern zur Wahlurne einhalten müssen.

Update 15.50 Uhr: Erste Wahllokale sind geschlossen

Im Osten der Türkei ist die Stimmabgabe für das Referendum über die Einführung eines Präsidialsystem bereits seit 15 Uhr MESZ beendet. In 32 Provinzen schlossen die Wahllokale. In den östlichen Provinzen hatten die Wahllokale bereits um 06.00 (MESZ) geöffnet, im Westen eine Stunde später. In der Westtürkei kann dementsprechend noch bis 16.00 (MESZ) abgestimmt werden. Ergebnisse werden am Sonntagabend erwartet. Wann feststeht, welches Lager eine Mehrheit der Stimmen erzielt hat, hängt davon ab, wie knapp das Ergebnis ausfällt. Umfragen sagen ein Kopf-an-Kopf-Rennen voraus.

Update 15 Uhr: Systematische Ausgrenzung der HDP

Eine Wahlbeobachterin der Linkspartein hat eine »systematische Ausgrenzung« der prokurdischen Oppositionspartei HDP bei dem Referendum über das Präsidialsystem in der Türkei kritisiert. »Es gibt eine systematische Ausgrenzung der Beobachter der Opposition, die lange vor dem Referendumstag begonnen hat«, sagte die Linken-Abgeordnete Heike Hänsel, die auf Einladung der HDP am Sonntag in der Kurdenmetropole Diyarbakir den Volksentscheid verfolgte. Die Behörden hätten vielen HDP-Vertretern die Akkreditierung als Beobachter verweigert oder ihnen am Wahltag den Zugang zu den Wahllokalen verwehrt, sagte Hänsel der Nachrichtenagentur AFP. Wegen dieser Einschränkungen habe die Partei nur 600 Beobachter für die rund 3.000 Wahllokale im Südosten. Nach türkischem Recht können die großen Parteien Vertreter in die Wahlkomitees sowie Beobachter in die Wahllokale schicken.

Die Linken-Bundestagsabgeordnete kritisierte zudem, dass ihrer internationalen Beobachtergruppe wiederholt der Zutritt zu Wahllokalen in Diyarbakir und umliegenden Orten verweigert worden sei. »Während der letzten Wahl, die ich hier ebenfalls als Beobachterin verfolgte habe, war die Situation für uns deutlich leichter«, sagte Hänsel. Hinzukomme, dass es nur sehr wenige internationale Beobachter im Südosten gebe. Einer der Beobachter, der in Diyarbakir und Mardin für den Europarat unterwegs war, ist der Linken-Abgeordnete Andrej Hunko. In der Innenstadt von Diyarbakir, die im Winter 2015/2016 bei Kämpfen zwischen Sicherheitskräften und der PKK-Guerilla stark zerstört wurde, sei die Stimmung sehr angespannt gewesen, und es habe eine massive Militärpräsenz in den Wahllokalen gegeben, sagte Hunko.

Seiner Gruppe sei der Zugang zu einem Wahllokal verweigert worden, obwohl sie die offizielle Einladung an den Europarat dabei hatte, sagte der Linken-Politiker. Erst nach Intervention des Büros des Europarats in der Türkei hätten sie Zugang erhalten. Eine Ausgrenzung der Opposition konnte er aus eigener Anschauung nicht bestätigen. In den Wahllokalen hätten sie überall Vertreter der Opposition angetroffen, sagte Hunko. Der Abgeordnete wies darauf hin, dass 300.000 bis 500.000 Menschen, die bei den Kämpfen zwischen PKK und den Sicherheitskräften aus ihren Häusern vertrieben wurden, nicht wählen würden, weil sie sich nicht rechtzeitig für die Abstimmung registrieren konnten. Die meisten Kurden lehnen die umstrittene Verfassungsänderung ab, mit der die Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan deutlich ausgeweitet würde.

Update 14 Uhr: Tote in kurdischer Provinz Diyarbakir

Bei einem Zusammenstoß während des Referendums in der Türkei sind in der mehrheitlich kurdischen Provinz Diyarbakir mindestens zwei Menschen getötet worden. Die Nachrichtenagentur DHA meldete, ein weiterer Mensch sei verletzt worden. Am Sonntagmorgen sei es vor einem Wahllokal zu einem Streit gekommen, bei dem die Beteiligten mit Messern und Schusswaffen aufeinander losgegangen seien. Dabei seien drei Menschen verletzt worden. Zwei davon seien auf dem Weg ins Krankenhaus gestorben. Ein Verdächtiger sei festgenommen worden. Nähere Hintergründe zu dem Zusammenstoß waren zunächst nicht bekannt.

Update 13 Uhr: Wahlbeobachter abgeführt

Die pro-kurdische HDP kritisierte am Sonntag, Wahlbeobachter der Opposition würden durch die Polizei in ihrer Arbeit behindert. Der HDP-Abgeordnete Ziya Pir sagte der Deutschen Presse-Agentur per Telefon aus einem Wahllokal in der Kurdenmetropole Diyarbakir, Polizisten führten Wahlbeobachter seiner Partei und der größten Oppositionspartei CHP ab. Hintergrund sei, dass auf Wahlbeobachter-Karten der Betroffenen der Name beziehungsweise das Symbol ihrer jeweiligen Partei abgebildet sei, sagte Pir. Die Polizisten argumentierten, dass die Verwendung von Parteisymbolen in Wahllokalen am Wahltag nicht gestattet sei. »Die gehen gezielt gegen die HDP und die CHP vor, also gegen das Nein-Lager. Die suchen Gründe, damit wir an den Wahlurnen keine Beobachter haben.« Die CHP und die HDP stellen die einzigen flächendeckenden Wahlbeobachter der Gegner des neuen Systems.

Oppositionsführer und CHP-Chef Kemal Kilicdaroglu sagte in Ankara: »Wir stimmen heute über das Schicksal der Türkei ab.« Er warnte zuvor, die Türken würden nun eine »Entscheidung treffen: Wollen wir ein demokratisches parlamentarisches System, oder wollen wir ein Ein-Mann-Regime?« Er appellierte an die Wähler: »Würdet Ihr Eure Kinder in einen Bus ohne Bremsen setzen? Schützt die Demokratie, wie ihr Eure Kinder schützen würdet.« Die linkskurdische HDP warb bei ihrer Abschlusskundgebung in Diyarbakir für ein »Nein« beim Referendum. Die Volksabstimmung findet im Ausnahmezustand statt, der noch mindestens bis Mittwoch andauert.

Die Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) hat elf internationale Experten nach Ankara entsandt. Zusätzlich sind 24 internationale Langzeitbeobachter der OSZE im Land im Einsatz. Die Parlamentarische Versammlung des Europarates (PACE) hat 20 Parlamentarier als Wahlbeobachter in die Türkei geschickt. Die internationalen Vertreter können aber nur stichprobenartig beobachten. OSZE und PACE wollen ihren Bericht zum Referendum an diesem Montag in Ankara vorstellen.

Türkei entscheidet: Referendum hat begonnen

Berlin. In der Türkei hat das heftig umkämpfte Referendum über die Ausweitung der Macht von Präsident Recep Tayyip Erdogan und Einschränkungen von Rechtsstaat und Demokratie begonnen. Die 55,3 Millionen Wähler sind aufgerufen, über eine umstrittene Verfassungsänderung zu entscheiden, mit der das bisherige parlamentarische System durch ein Präsidialsystem ersetzt würde. Die Opposition warnt dagegen, dass die Reform einer autoritären Ein-Mann-Herrschaft den Weg bereitet.

In Diyarbakir und anderen Provinzen im Osten des Landes öffneten am Sonntag die Wahllokale zuerst. Im Westen des Landes begann die Abstimmung eine Stunde später. Die Wähler können bis 17 Uhr (16.00 Uhr MESZ) ihre Stimme abgeben, Ergebnisse werden noch am Abend erwartet. Umfragen sehen das Land in der Mitte gespalten und lassen einen knappen Ausgang erwarten. Der Wahlkampf hat zu einer beispiellosen Mobilisierung, aber auch zur starken Polarisierung des Landes geführt. Obwohl Erdogan als Präsident zur Neutralität verpflichtet ist, tourte er über Wochen unermüdlich durch das Land, um auf dutzenden Kundgebungen für das Präsidialsystem zu werben.

Das Fernsehen übertrug sämtlich Auftritte der Ja-Kampagne, während Straßen und Plätze mit ihren Transparenten behängt waren. Die Nein-Kampagne, die die kemalistische CHP, die prokurdische HDP ebenso wie zivilgesellschaftliche Initiativen und Teile der Nationalisten vereinte, war dagegen deutlich weniger sichtbar. Ihre Vertreter beklagten Einschränkungen und Benachteiligung in den Medien. Die Abstimmung wird nicht nur über das Regierungssystem entscheiden, sondern auch weitreichende Folgen für die weitere Ausrichtung des Landes und sein Verhältnis zur Europa haben. Der Wahlkampf hat die Beziehungen zu den EU-Partnern auf einen Tiefpunkt sinken lassen, nachdem Erdogan Deutschland und den Niederlanden nach der Absage von Auftritten türkischer Minister Nazi-Methoden vorgeworfen hat. Agenturen/nd

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