Gorki und Majakowski aus Pappe und Stoff
Das Filmfestival »achtung berlin!« zeigt Werke, die in Berlin produziert sind oder inhaltlich angesiedelt wurden
Berlin ist in Sankt Petersburg, in der südöstlichen Türkei, an der Küste Japans oder auf dem Mittelmeer. Warum Berlin auf einmal so groß ist? Durch die Kriterien des Filmfestivals »achtung berlin«. Denn die hier gezeigten Werke - es sind rund 80 Spielfilme, Dokus oder Animationsfilme aller Längen - sollten in Berlin und Brandenburg spielen oder von dort aus produziert sein. So erklärt sich die künstlerische und geografische Bandbreite der Auswahl.
Eine Produktion der Filmuniversität Babelsberg »Konrad Wolf« etwa ist Jakob Schmidts Dokumentarfilm »Zwischen den Stühlen«. Katja, Anna und Ralf sind keine Lehramtsstudenten mehr und noch keine Lehrer. Als Referendare stellen sie sich der harten Realität ihres zukünftigen Berufes. Lebhafte bis freche Berliner Klassen und ganz praktische Probleme beim Vermitteln des Stoffes lassen die angehenden Pädagogen an ihrer Berufung zweifeln. Ist Hesses »Unterm Rad« zu schwer? Und wie erklärt man jungen Schülern lange und kurze Vokale? Wäre da nicht die penetrante Klampfen-Filmmusik, hätte man fast den Eindruck, selbst im Klassenzimmer zu sitzen. Wie die drei Anfänger der Aussicht trotzen, Berufszyniker zu werden oder auszusteigen, ist dennoch sehr spannend geschildert und vermittelt einen Einblick in einen wichtigen, wenn auch nervenzehrenden Beruf.
Entdecken obige Filmhelden alles neu, haben sich »Die Hannas« in der Routine eingerichtet. Die Hannas sind ein Paar, Hans und Anna, beide etwas pummelig, kochbegeistert und in Bett und Beziehung etwas leidenschaftslos geworden. Als die zwei heimlich jede(r) für sich eine Affäre beginnen, gerät alles aus den Fugen. Hans entdeckt einen ungeahnten Jagdinstinkt in sich, Anna schwankt zwischen neu gewonnener Sehnsucht und Gewissensbissen.
Manches ist ungelenk in diesem Film, vor allem die Dialoge. Doch »achtung berlin« ist nicht von ungefähr ein Festival für junge Filmemacher. Das erklärt die Unbefangenheit und Direktheit in vielen der Festivalfilme, ebenso wie begrenzte (oder kaum existierende) Budgets. Letzteres war bei »Die Hannas« zwar vorhanden, dennoch probiert sich Regisseurin Julia C. Kaiser ausgiebig aus, was nicht immer aufgeht, bei den humorvolleren Momenten aber gut funktioniert.
Apropos Humor: Die Retrospektive ist in diesem Jahr dem großen Schauspieler Michael Gwisdek gewidmet, der zuletzt in der hochkomischen Agentenfilm-Parodie »Kundschafter des Friedens« von Robert Thalheim glänzte. Neben jenem Film zeigt das Festival vier von Gwisdeks DEFA-Filmen.
Und wer glaubt, schon alles über die russische Oktoberrevolution zu wissen, wird von dem sehr gelungenen dokumentarischen Animationsfilm »Der wahre Oktober« (Regie: Kathrin Rothe) eines Besseren belehrt. In Papiertrickfilmsequenzen stellt die Regisseurin die ereignisreichen Monate des Jahres 1917 zwischen der Februarrevolution und der Machtübernahme der Bolschewiki im November nach. Außer seiner ästhetisch so anspruchsvollen wie unterhaltsamen Form überrascht der Film durch seine Erzählperspektive.
So lässt er die Historie durch die Augen russischer Intellektueller und Künstler wie Sinaida Hippius, Maxim Gorki, Kasimir Malewitsch oder Wladimir Majakowski erzählen. Zitiert wird aus zum Teil unveröffentlichten Schriften. Originalaufnahmen von 1917 rücken gelegentlich ins Bild, genau wie die Regisseurin, die beim Kreieren der Trickfilmfiguren gefilmt wird und im Off persönliche Überlegungen anstellt. Der besonnene Gorki, der überschwängliche Majakowski oder die bürgerliche Hippius erscheinen auf der Leinwand zwar nur als Figuren aus Pappe und Stoff, doch sie erweisen sich als äußerst lebhafte und kenntnisreiche Geschichtsführer durch das russische Revolutionsgeschehen.
19.-24. April im Babylon Mitte, International, Eiszeit u.a.; Infos und Programm unter www.achtungberlin.de
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.