Türkei: Kein Platz für Minderheiten
Mit der Zustimmung zur neuen Verfassung wird die Opposition unter Erdogan weiter eingeschnürt
Menschenrechtsorganisationen und Minderheiten-Vertreter sind nicht nur besorgt über die neue Verfassung, für die am Sonntag in der Türkei gestimmt wurde. Sie konnten auch nicht an ihrer Entstehung mitwirken. Die regierende AKP entwarf sie zusammen mit der nationalistischen MHP ohne jegliche Kooperation mit Frauen- oder Menschenrechtsorganisationen. Diese Missachtung gaben einige Oppositionelle denn auch prompt zurück: So erklärte der HDP-Abgeordnete Sırrı Süreyya Önder schon vor dem Referendum im türkischen Fox TV: »Die Türkei hat keine 81 Städte mehr, sondern nur noch 80. Şırnak haben sie aus der Karte entfernt.«
Genauso wenig hatten die Armenier Grund, für die Verfassungsänderung zu stimmen. Als Mitte Januar einzelne Punkte der vorgeschlagenen Verfassung im Parlament zur Abstimmung standen, wurde der HDP-Angeordnete Garo Paylan aus dem Abgeordnetenhaus geworfen und für drei Sitzungen verbannt. Als Begründung galt, dass er den Völkermord an den Armeniern erwähnte. Dass Paylan für seine Worte bestraft wird, verlangte damals im Übrigen auch die liberale CHP, deren Abgeordnete wenige Tage später zahlreich am Gedenken für den ermordeten armenischen Journalisten Hrant Dink erschienen. Dink wurde infolge einer öffentlichen Lynchkampagne ermordet, weil er den Genozid an den Armeniern zur öffentlichen Diskussion zu machen versuchte.
»Eine Nation, eine Flagge, ein Vaterland, ein Staat« – das ist das Motto der AKP für die neue Türkei. Das Ziel: ein Land, indem nur sunnitische Türken leben, die nur Türkisch sprechen. So wie die Regenbogentreppen der Gezi-Proteste wird alles Bunte mit Grau überdeckt, es gibt keinen Platz für Vielfalt. Die Hexenjagd gegen Oppositionelle, der Krieg in den kurdischen Städten, die Rhetorik, die fast täglich Frauen sowie Lesben, Schwule, Bisexuelle, Trans, Inter und Queer (LGBTI) das Leben kostet, sind für jeden Menschen äußerst besorgniserregend, der schon mal aufgrund seiner Identität diskriminiert wurde.
Seitdem im Juli 2016 der Ausnahmezustand verhängt worden ist, wurden hunderte Menschenrechtsorganisationen per Notstandsdekret geschlossen. Ein Wahlversprechen für das Ja war, dass der Ausnahmezustand aufgehoben wird. Die erste Tat nach dem Referendum mit dem angeblichen Sieg bestand dann aber darin, den Ausnahmezustand zum dritten Mal zu verlängern.
Die Opposition glaubt an großangelegte Wahlmanipulation. Erdoğan Toprak, ein CHP-Abgeordneter, spricht von 2,5 Millionen ungültigen Stimmen. Im Kurznachrichtendienst Twitter teilte die HDP-Abgeordnete Pervin Buldan ein Foto von einem Sack ausschließlich mit gültigen Stimmzetteln, auf denen Hayır abgestempelt ist. Kemal Özkiraz, Gründer des inzwischen geschlossenen Umfrageinstituts AKAM erzählt dem Nachrichtenportal Duvar, dass die ungültigen Stimmzettel mehrheitlich in kurdischen Städten aufgefunden wurden.
Die Diskriminierung ausgesetzten Minderheiten, Frauen und LGBTI in der Türkei blicken zurzeit in eine dunkle Leere, ohne sehen zu können, was auf sie zukommt. Viele möchten das Land verlassen. Die Staatsgewalt nimmt stetig zu seit der Parlamentswahl vom 7. Juni 2015, alle demokratischen Wege für eine gewaltlose Existenz für Oppositionelle sind versperrt. In einem Präsidialsystem, in dem die nassesten Träume von Recep Tayyip Erdoğan zu Gesetz werden können, ist ein harmonisches Miteinander für viele kaum vorstellbar.
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