»Erdogan hat nicht gewonnen«
Zwischen Sieg und Niederlage: Bleibt auf der Straße! - »nd« veröffentlicht den letzten Artikel des in der Türkei verhafteten Journalisten Ali Ergin Demirhan
Am frühen Morgen des 20. April wurde Ali Ergin Demirhan bei einer Razzia in den Räumen des linken Onlinemediums »sendika.org« in Istanbul verhaftet. »Sendika« heißt Gewerkschaft. Die Internetseite berichtet über Arbeitskonflikte, soziale Proteste und die politische Krise in der Türkei sowie in der Region. Die Seite wird regelmäßig von den türkischen Behörden gesperrt und ist daher zur Zeit unter sendika34.org zu finden. Sie berichtete breit über die »Hayir« - Nein - Kampagne zum Referendum über das Präsidialsystem von Recep Tayyip Erdogan am 16. April. Ali Ergin Demirhan wird – wörtlich – die »Nichtanerkennung« des offiziellen Abstimmungsergebnisses vorgeworfen, weiterhin »Volksverhetzung« und die Aufwiegelung zum Protest. Den folgenden Artikel schrieb er kurz vor seiner Verhaftung. Er wurde am 20. April in türkischer Sprache online veröffentlicht.
Nach einem unrechtmäßigen, manipulativen, illegalen Prozedere hat Erdogan die von ihm gewünschte Macht bekommen. Es ging ihm sowieso nie um Rechtmäßigkeit, sondern nur um Macht. Für seinen Machterhalt wird er alle Möglichkeiten nutzen.
Die Wählerstimmen an der Schwarzmeerküste und in Mittelanatolien konnte er halten. Aber in den kurdischen Städten hat Erdogan das Referendum durch einen Krieg gegen die Kurden gewonnen: mit Waffengewalt und Korruption. Erdogan wird weiterhin die Kurden attackieren, weil er damit die Front seiner Gegner spaltet und gleichzeitig die Aggressoren hinter sich vereint. Auf dem Balkon des Huber-Palastes in Istanbul hielt er gleich nach dem Referendum seine Rede zur Todesstrafe, denn er weiß um die Haltung der CHP, er kennt den Slogan des CHP-Vorsitzenden Kemal Kilicdaroglu, »es muss erst ins Parlament«. Ein legalistischer Standpunkt, der so tut, als gäbe es an dieser Stelle jetzt noch kein Problem. Diese Haltung wird zwischen türkischen und kurdischen »Nein-Sagern« eine Mauer aus Eis errichten.
Andererseits darf man nicht vergessen, dass Erdogan und Bahceli (MHP) zwar das Referendum gewonnen haben, aber die politischen Verlierer des Prozesses sind. Sie sind Verlierer, nicht nur wegen der 17 Großstädte – auf die mehr als zwei Drittel der Wirtschaftsleistung des Landes entfällt – in denen sie die Mehrheit an die Opposition verloren haben, sondern wegen der Kontrolle, die sie gern behalten hätten.
Das Bündnis Erdogan/Bahceli hat die Rechte nicht vereinen können. Erdogan hat aus dem Referendum nicht die von ihm gewünschte Autorität gezogen und deshalb »verloren«. Hätte das Bündnis von Erdogan und Bahceli eine 55- bis 60-prozentige Unterstützung der Stimmen erhalten, hätten sie die Einheit der Rechten vielleicht nicht von oben, aber möglicherweise von unten erreichen können. Auch das klappte nicht. Die MHP-Abweichler haben mit ihrer Verweigerung zum JA im Referendum einen Spalt geöffnet, der die Zersplitterung der rechten Fraktionen noch verstärkt. Es werden neue Gruppierungen entstehen und dadurch werden sie bei jedem Schritt immer mehr an Kraft verlieren.
Erdogan hat nicht gewonnen. Aber es sieht so aus, dass auch die »Nein-Front« nicht eben nah am Sieg ist. Ob wir es einsehen oder nicht, die Schwachstelle der »Nein-Front« ist die CHP. Kurz nach der Öffnung der Urnen hat sie im Zuge der Manipulationen der Nachrichtenagentur Anadolu beinah das Handtuch geworfen und – fast – das Ergebnis anerkannt. Man kann von der Zentrale der CHP also nicht erwarten, dass sie die Fähigkeit besitzt, die »Nein-Front« zu einem echten Widerstandsblock zu formen. Erdogans Niederlage macht uns nicht zu Gewinnern. Wir sind nun mit den Folgen seines Machtanspruchs konfrontiert, der seit dem Gezi-Aufstand 2013 illegitim ist und dessen Unbesiegbarkeit seitdem widerlegt ist.
Die Massen mischten sich ein. Als am Abend des 17. April Zehntausende die Straßen füllten und »Nein, wir haben gewonnen« riefen, da war klar: Es war doch zu früh, die Ergebnisse des 16. April als endgültig bekannt zu geben oder dieses »Zahlen-Ergebnis« als politische Prognose darzustellen. Weil etwas anderes als die oberste Wahlbehörde YSK oder die Zentrale der sozialdemokratisch-kemalistischen CHP auf sich aufmerksam machte: Die Straße!
Eine selbstorganisierte Massenbewegung in der Tradition der Gezi-Proteste nahm ihren Platz auf der politischen Bühne ein. Die Bewegung in den sozialen Medien und die Aktionen auf der Straßen steigerten sich wie 2013 gegenseitig. Nachdem am Abend des 16. April erste Schritte auf die Straße gesetzt wurden und nicht klar war, wo dieser Widerstand hinführen würde, hat sich der Widerstand innerhalb von 3 Tagen mit jedem Schritt vergrößert und auf das ganze Land ausgeweitet.
Es begann mit Istanbul, Ankara, und Izmir. Weiter ging es mit Eskişehir, Antalya, Kocaeli, Adana, Mersin, Muğla, Aydın, Tekirdağ, Eskişehir, Çanakkale, Bursa, Çorum, Artvin, Balıkesir. Es wurden sogar in der Hochburg der Ja-Sager, dem »aktionslosen« Konya, Aktionen organisiert. Die Beteiligung ging stellenweise in die Zehntausende und war anderswo auf Hunderte begrenzt, aber die Aktionen werden entschlossener.
Diese Bewegung hat keine gemeinsamen Pläne und keine Zentrale (zumindest bisher nicht). Was lenkt sie? Wir können es sagen, wenn wir für das »NEIN« den Spuren aus Gezi und den Wahlen vom 7. Juni 2015 (als die HDP ins Parlament einzog und Erdogan die Mehrheit für die Alleinregierung streitig machte – Anm. d. Üb.) folgen. Die Motive und die Ausrichtung dieser Massenbewegung liegen in den gesammelten Erfahrungen und den aus diesen Erfahrungen gezogenen Lehren:
- Erdogan wird die Macht, die er mit Betrug und Gewalt errungen hat, bis zum Schluss nutzen. Er sucht keine Legitimität.
- Eine sichtbar starke Opposition allein, die für Erdogan wie beim Referendumsprozess bedrohlich wird, reicht nicht. Wenn Erdogan sieht, dass er zurückgedrängt wird, wird er alle Machtoptionen nutzen, um diese Opposition zu zerschlagen. Er hat jetzt schon Signale für Krieg im Inland und Ausland gegeben und hat nicht vor, den Ausnahmezustand zu beenden.
- Nationales Recht, internationales Recht und auch die Institutionen, die die demokratischen Grundrechte vertreten, werden nichts nutzen, wenn die Massen nicht für ihre Rechte kämpfen, wenn sie nicht für Protestaktionen eintreten, die in den Alltags eingreifen.
Die Slogans, die bei den Protestaktionen häufig gerufen werden, »Die AKP ist ein Dieb«, »YSK ist Handlanger der AKP« und »Nein, wir haben gewonnen« sind nicht nur Kritik am Referendumsbetrug, sondern auch Kritik an der kapitulierenden, passiven Haltung der CHP-Zentrale.
Es entstand eine Situation, die den Betrugsvorwürfen Glaubwürdigkeit verleiht:
die für Erdogan gefährlichen Berichte der internationalen Beobachter,
der Widerspruch von Kilicdaroglu und CHP »wir werden die Ergebnisse nicht anerkennen«,
die Berichte in der ausländischen Presse, die politischen Botschaften aus USA und EU.
All das beunruhigt Erdogan und seine Umgebung und führt dazu, dass sie Einschüchterungsoperationen durchführen.
Es hängt nun davon ab, ob das beim Referendum vom 16. April entstandene Bild zugunsten der demokratische Kräfte genutzt werden kann. Das ist nur möglich durch unnachgiebige Präsenz auf der Straße, durch den Willen, die auf Betrug und Unrecht gebaute Ein-Mann-Diktatur zu verhindern. Solange die Bewegung auf der Straße bleibt, besteht eine Chance, die Rechte der Nein-Sager und das NEIN der Bevölkerung zu verteidigen. Nur wenn wir Erdogans Spaltungstaktiken begegnen, wenn sich die Massen vermehren, die Stellungen gehalten werden und die Menschen sich in die Alltagsroutine eingreifen, nur dann können die Ziele der demokratischen Kräfte erreicht werden. (In diesem Punkt dürfen wir nicht vergessen, dass Programm, Kräfteverhältnisse und Taktiken des Gezi-Protests überarbeitet werden müssen.)
Es ist möglich, dass sich die Bewegung zurückzieht, ohne etwas erreicht zu haben. Dass die Führung der CHP sagt, »gibt es sowas, kann es sowas überhaupt geben?«, und sich auf ihre Sessel zurückzieht, ohne etwas zu tun. Dass Doğu Perincek (Vaterlandspartei) sich ein Zimmer im Palast schnappt, dass Putin und Trump in Syrien Zugeständnisse bekommen und die EU bezüglich der Flüchtlinge – und alle Erdogans Ein-Mann-Diktatur anerkennen. Dass der Krieg in Kurdistan in eine neue Phase noch heftigerer Auseinandersetzungen eintritt und die Opposition gegen die Ein-Mann-Diktatur sich spaltet. All das ist möglich. Doch selbst dann dürften wir noch nicht alles verloren geben.
Aber wieso sollen wir damit einverstanden sein, uns das von uns gewonnene Referendum vor unseren Augen stehlen zu lassen? Warum sollen wir das Ein-Mann-Regime zulassen, das eigentlich enden müsste, sich aber durch ein gestohlenes Referendum eine rechtliche Grundlage verschafft hat? Warum sollen wir denn erlauben, dass die demokratischen und laizistischen Errungenschaften – wenn sie auch nicht ausreichend waren – nun vernichtet werden? Warum wollen wir uns einer Bande ergeben, die »wir revanchieren uns für die letzten 200 Jahre« und »ihre Frauen und Töchter sind uns halal« sagen?
Warum sollen wir den Komplizen der Regierung vertrauen? Der obersten Wahlbehörde? Der CHP – der nicht klar ist, was sie sagt? Den USA und der EU – die alle schmutzigen Diktatoren für ihre eigenen Interessen unterstützen? Gibt es, außer auf den Straßen unseres Landes, überhaupt Sicherheit?
Quelle: http://sendika34.org/2017/04/kazanmakla-kaybetmek-arasinda-guvence-sokakta-ali-ergin-demirhan/
Übersetzung und weitere Informationen: www.freiesicht.org
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