»Die ganze ökonomische Scheiße«

Präziser ist der Kapitalismus seither nicht mehr beschrieben und also kritisiert worden: Die Geschichte von »Das Kapital« in 15 Stationen

  • Tom Strohschneider
  • Lesedauer: 8 Min.

Mit seiner Prognose vom April 1851, »in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig« zu sein, lag Karl Marx etwas daneben: Das Manuskript wurde 16 Jahre später fertig. Ein Glück, dass er sich bis 1867 Zeit genommen hat. Präziser, kritischer und bleibender ist der Kapitalismus seither nicht mehr auseinandergenommen worden. Die Geschichte eines Bestsellers in 15 Stationen.

1828: Heines Empfehlung

»Ich habe das Merkwürdigste gesehen, was die Welt dem staunenden Geiste zeigen kann, ich habe es gesehen und staune noch immer«, schreibt Heinrich Heine in seinen Reisebildern. »Schickt einen Philosophen nach London, er wird hier mehr lernen als aus allen Büchern der letzten Leipziger Messe; und wie die Menschenwogen ihn umrauschen, so wird auch ein Meer von neuen Gedanken vor ihm aufsteigen, der ewige Geist, der darüber schwebt, wird ihn anwehen, die verborgensten Geheimnisse der gesellschaftlichen Ordnung werden sich ihm plötzlich offenbaren, er wird den Pulsschlag der Welt hörbar vernehmen und sichtbar sehen.«

1830: Eine neue Welt

Von 1770 bis 1841 wächst die Baumwollverarbeitung in England jährlich um durchschnittlich 7 Prozent – der Leitsektor ist der Gesamtwirtschaft voraus, die nimmt um 1830 jährlich um rund 2,5 Prozent zu. 1833 leben etwa anderthalb Millionen Engländer von der Baumwollindustrie. Die Ausfuhren haben sich seit Beginn des Jahrhunderts verachtfacht. Dampfmaschinen, Kohleindustrie, Maschinenbau, Infrastruktur, Eisenbahnen, Welthandel: »Die Folge der revolutionierten Baumwollspinnerei musste eine Revolution der gesamten Industrie sein«, schreibt Friedrich Engels später. Sie ist »die Basis aller modernen englischen Verhältnisse.«

1844: Engels’ Umrisse, Marx’ Interesse

Während Karl Marx zunächst noch in Zeitungspolemik macht und Hegel-Philosophie betreibt, startet Engels im Herbst 1837 eine Ausbildung als Kaufmann – in Barmen in der Handelsfirma des Vaters sowie bei einem Bremer Großhändler. Die Erfahrungen fließen in »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« (1845) ein. Ein Jahr zuvor hat Engels bereits »Umrisse zu einer Kritik der Nationalökonomie« vorgelegt. Auch Karl Marx wendet sich zu jener Zeit verstärkt der Ökonomie zu. In den erst nach seinem Tode veröffentlichten Pariser Manuskripten (1844) verbindet er erstmals eine Kritik der Nationalökonomie mit seiner Philosophie.

1848: Ein Gespenst

Zur Jahreswende 1847/48 schreiben Marx und Engels für den Bund der Kommunisten ein »Manifest« – es erscheint 1848 kurz vor den Revolutionen in Frankreich (Februar) und im Deutschen Bund (März). »Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr ... in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat... Die Bourgeoisie kann nicht existieren, ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren … Sie produziert vor allem ihren eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.«

1849: Flüchtlinge

»Ich bin nach dem Departement Morbihan verwiesen, den Pontinischen Sümpfen der Bretagne«, schreibt Marx im August 1849 aus Paris an Engels, der in Lausanne sitzt. Beide werden von den Autoritäten schon länger schikaniert. »Du begreifst, dass ich auf diesen verkleideten Mordversuch nicht eingehe. Ich verlasse Frankreich. ... Du also musst sofort nach London. Zudem erheischt es Deine Sicherheit. Die Preußen würden Dich doppelt erschießen … Und was sollst Du in der Schweiz, wo Du nichts tun kannst? ... In London werden wir Geschäfte machen.« Wie ernst es Marx ist? »Aber noch einmal«, endet sein Brief an Engels, »ich rechne sicher darauf, dass Du mich nicht im Stich lassen wirst.«

1850: Beheizte Bibliothek

Marx in London, das ist Heines Philosoph am »Pulsschlag der Welt«: Die Stadt ist Zentrum der Weltwirtschaft, hier lassen sich die kapitalistischen Produktionsverhältnisse in ihrer entwickeltsten Form aus der Nähe beobachten. In der Bibliothek des Britischen Museums befindet sich eine der größten Sammlungen des ökonomischen und gesellschaftspolitischen Wissens jener Zeit. Bis Februar 1851 hat Marx eine Zusammenfassung der von ihm studierten Werke fertig: »Bullion. Das vollendete Geldsystem«. Nebenbei, aber das ist für Marx, den zeitlebens Geldsorgen und angeschlagene Gesundheit plagen, nicht unwichtig: Der Lesesaal der Bibliothek ist auch im Winter gut beheizt.

1851: Et cela fait …

In der British Library exzerpiert Marx Schriften, denkt sich durch die existierende Nationalökonomie, stellt neue Fragen – und findet Antworten. Insgesamt entstehen in London 24 Hefte mit Aufzeichnungen. Und Marx wird übermütig: »Ich bin soweit, dass ich in fünf Wochen mit der ganzen ökonomischen Scheiße fertig bin«, schreibt er im April 1851 aus London an Engels. »Et cela fait (Wenn das erledigt ist), werde ich zu Haus die Ökonomie ausarbeiten und im Museum mich auf eine andre Wissenschaft werfen.« Welche? Wir erfahren es nicht. Denn Marx kann die Prognose nicht halten: Bis zur Drucklegung des ersten Bandes von »Das Kapital« sollten noch 16 Jahre vergehen.

1857: Beautiful Bankenkollaps

»Pleite ist ein anderes Wort für Hunger«, meldet die »Chicago Tribune«. Marx nennt den Bankenkollaps »beautiful« – er hatte sieben Jahre zuvor vorausgesagt, dass die Krise in New York ausbrechen werde: Ende August 1857 stellt dort die Ohio Life Insurance Company ihre Zahlungen ein, nachdem sich der Banker Edward Ludlow im Bahnsektor verspekuliert hatte. Allein in den USA gingen bis Ende des Jahres über 5000 Firmen Pleite. Zwei Monate später erreicht die Weltwirtschaftskrise London, in Hamburg bricht sie im November aus. Trotz staatlicher Intervention steigt dort die Zahl der Konkurse vor allem der Handelshäuser auf das Siebenfache. Die erste große Krise des Kapitalismus endet 1859.

1860: Kohle, Stahl, Boom

Der Durchbruch für die Industrialisierung kommt in Deutschland später, aber er kommt. Vor allem in den Leitsektoren Steinkohlebergbau, Eisen- und Stahlindustrie, Maschinenbau sowie bei der Eisenbahn. Wie sich das auf Fabriken und vor allem die Arbeiter auswirkte, zeigt ein Beispiel: Die Zahl der Krupp-Beschäftigten in Essen explodiert förmlich von unter 1800 im Jahr 1860 auf 16 000 im Jahr 1873. Im Ruhrgebiet wachsen die Industriedörfer, anderswo nimmt die Urbanisierung immer mehr Fahrt auf. Die Folge? Ein Boom. Innerhalb der Grenzen, die ab 1871 das Deutsche Reich bilden, wurde 1800 ein Sozialprodukt von 5,7 Milliarden Mark erwirtschaftet – 1875 waren es bereits fast 18 Milliarden.

1864: Karls Karbunkeln

»Ich war seit 14 Monaten beinahe beständig und oft lebensgefährlich krank an Karbunkeln«, schreibt Marx Ende 1864 an Joseph Weydemeyer. Seine Briefe sind voller Beschreibungen der schmerzhaften Infektionen. Marx glaubte gar, dass er »von Karbunkelkrankheit mehr weiß als die meisten Ärzte«. Doch alle Arsenkuren helfen nichts. Nach Marx‘ Tod nehmen sich Dermatologen des Falls an, der Schweizer Philosoph Arnold Künzli verfasste sogar eine ganze Psychographie von Marx, in der Karbunkeln eine wichtige Rolle spielen. Marx vor allem litt: Wäre »Das Kapital« fertig, schreibt er 1866 an Engels, »so wäre es mir völlig gleichgültig, ob ich heute oder morgen auf den Schindanger geworfen würde, alias verreckte.«

1866: Der Politiker

Im Oktober 1864 wird die »Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation« veröffentlicht, die Karl Marx verfasst – der sich nicht nur als Theoretiker und Publizist versteht, sondern auch Politiker ist. Das führt auch zu der Frage, wofür er Zeit erübrigen kann: die Theorie, die Organisation? Er nimmt nicht an allen Kongressen der Assoziation teil, weil er am »Kapital« arbeitet, bestimmt aber im Wesentlichen den Kurs der IAA mit, die sich Anfang der 1870er Jahre spaltet. Engels bemerkt später, viele hätten »sich den Ruhm angemaßt, als Gründer dieser Assoziation zu gelten«. Unter allen Beteiligten habe es aber nur einen gegeben, »der sich klar war über das, was zu geschehen hatte«.

1867: Das furchtbarste Missile

Im April 1867 fährt Karl Marx per Dampfschiff nach Hamburg, im Gepäck das Manuskript zum ersten Band von »Das Kapital«. »Höchst tolles Wetter und Sturm«, berichtet Marx von der Überfahrt. »Der Druck wird in a few days beginnen und rasch vonstatten gehn«, hofft er da noch, und sagt über Verleger Otto Meissner, der sei ein »netter Kerl, obgleich etwas sächselnd«. Die Arbeit an den Fahnen beginnt, erst von Hannover aus, wo Marx bei Ludwig Kugelmann zu Gast ist. Bis zur Drucklegung dauert es dann doch noch Monate. Am 13. September wird in den »Hamburger Nachrichten« die Neuerscheinung ankündigt: »Es ist sicher das furchtbarste Missile«, sagt Marx, »das den Bürgern noch an den Kopf geschleudert worden ist.«

1868: Grundneue Elemente

Anfang 1868, die ersten Kritiken sind da, beklagt sich Marx gegenüber Engels, dass einer der Rezensenten, Eugen Dühring, »die drei grundneuen Elemente des Buchs nicht herausfühlt«: Erstens, dass er, Marx, im Gegensatz zu aller früheren Ökonomie »zunächst die allgemeine Form des Mehrwerts, worin all das sich noch ungeschieden, sozusagen in Lösung befindet, behandelt«. Zweitens, »dass, wenn die Ware das Doppelte von Gebrauchswert und Tauschwert, auch die in der Ware dargestellte Arbeit Doppelcharakter besitzen muss«. Und schließlich, »dass zum erstenmal der Arbeitslohn als irrationelle Erscheinungsform eines dahinter versteckten Verhältnisses dargestellt« werde.

2013: Weltdokumentenerbe

Millionen gedruckte Exemplare und ungezählte theoretische Debatten später würdigt die UNESCO den ersten Band von »Das Kapital« mit der Aufnahme in das Weltdokumentenerbe – weil das Buch weltweit Einfluss auf soziale Bewegungen gehabt habe. »Auch diejenigen, die seine Ideen nicht teilen, müssen ihn schätzen, respektieren«, begrüßt Gregor Gysi die Entscheidung und legt sogleich mit einer Kritik nach: »Wäre Karl Marx ein Franzose, wäre jeder Präsident, auch der konservativste an seiner Grabstätte in London gewesen. Noch nie hat sich dort ein deutscher Kanzler oder eine deutsche Kanzlerin sehen lassen.« Soweit bekannt, hat sich daran seither auch nichts geändert.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.