Orange Weste und rote Hoffnungen
14.000 bei DGB-Demo / Müller verspricht besseren Lohn und Stopp der Auslagerungen
»Eure Demokratie ist Verarsche« steht auf dem Pappschild, das eine Frau in die Höhe hält. Vom Lautsprecherwagen des »Klassenkampfblocks« dröhnt ein Redebeitrag über die Politik des börsennotierten Unternehmens Deutsche Wohnen. Die Frau beugt sich herunter zu einem Mädchen, das neben ihr geht: »Das ist hier der Arbeiterkampftag«, schreit sie. Das Mädchen nickt und beißt in einen Schokokringel.
Unter dem Motto »Wir sind viele, wir sind eins!« folgen am Montag rund 14 000 Menschen dem traditionellen Aufruf des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) - etwa so viele wie im vergangenen Jahr. Neben Pathos und Tradition tragen die Menschen jedoch auch ganz konkrete Arbeitskämpfe auf die Straße. Eine Frau hat ein gelbes T-Shirt an ihrem Rucksack befestigt, darauf das Herz der Berliner Verkehrsbetriebe. 2018 steht hier eine Tarifrunde an. »Wir wollen, dass wieder richtig gekämpft wird«, sagt die Busfahrerin, die ihren Namen nicht in der Zeitung lesen will. Die Fahrtzeiten seien nicht mehr zu schaffen, es fehle an Personal und Bussen. »Wir sind nur noch auf der Flucht.« Wenn sie nach acht Stunden konzentriertem Fahrens nach Hause komme, könne sie nur noch schlafen. »Das geht auf den Körper.«
»Die Krankenschwester ist die neue Magd in Deutschland«, steht auf einem Transparent, das eine andere Frau hält. Die 63-jährige Krankenschwester, die anonym bleiben will, erzählt, dass sie 42 Patienten pro Nachtschicht betreue: »Das ist Menschenschinderei.« Auch der Lohn sei zu niedrig. Sie habe Kollegen, die zusätzlich zu ihrem Vollzeitjob arbeiten, nur, um mit 1300 Euro in Rente zu gehen. »Dass wir im Alter noch in die Altersarmut fallen, ist der blanke Hohn.«
Auch die Berliner Stadtreinigung (BSR) ist gekommen, jedoch nicht, um die Straßen von fallengelassenen Flugblättern zu säubern. Die neue Vorstandsvorsitzende Tanja Wielgoß wolle »alles umkrempeln und die Arbeitnehmerrechte beschneiden«, sagt ein Mann in orangefarbener Arbeitsweste. Rolf Wiegand, stellvertretender Personalratsvorsitzender, hat sich zudem über ein Interview geärgert, dass Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Grüne) vor zwei Wochen der »taz« gegeben hatte. Dort hatte sie Kollegen zitiert, die der BSR damit drohen, die Biomüll-Sammlung auszuschreiben. Wiegand fürchtet nun, »dass das an Private vergeben wird«. Zum Protestzug haben die Stadtreiniger ihr Kehrwerkzeug mitgebracht, an einem Karren hängen rote SPD-Luftballons.
Die LINKE ist mit roten Fahnen vertreten, knallrot ist auch der Mantel, den Sandra Scheeres (SPD) trägt. Die Bildungssenatorin läuft mit Freunden in ihrem Parteiblock. »Ich bin jedes Jahr hier«, sagt sie. Seit ihrer Ausbildung zur Erzieherin sei sie Gewerkschaftsmitglied, »um für bessere Arbeitsbedingungen zu kämpfen.« Angesprochen auf das immer wieder kritisierte Gehalt der Erzieher kritisiert sie ihrerseits die Gewerkschaft. Seit Februar gebe es im neuen Tarifvertrag der Länder einen Zuschlag von 80 Euro. »Die wissen, dass ich nicht mehr zahlen kann.«
Als der Demonstrationszug am Brandenburger Tor einzieht, trifft er auf Kinderfest, Bratwurstbuden und Touristengruppen. Ein Reiseführer sagt auf Englisch: »Deutschlands erste Demokratie war ein absolutes Desaster. Sie endete mit Hitler.« Die jungen Touristen schreiben die Sätze in ihre Notizhefte.
Der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) betritt die Bühne. Er sagt: »Der Öffentliche Dienst muss ein Beispiel werden für gute Arbeit.« Lachen und Buhrufe aus dem Publikum. »Ich sage das ganz bewusst«, sagt Müller. Er werde sich dafür einsetzen, den Lohn ans bundesweite Gehaltsniveau anzupassen. »Berlin wird was drauflegen.« Es müsse außerdem mehr Festanstellungen an Musik- und Volkshochschulen geben, die Tochtergesellschaft CFM werde wieder zur Charité gehören. »Die Zeit der Auslagerung ist vorbei.« Zum Schluss sagt er noch: »Viel Erfolg bei eurem Kampf.« Ein Mann, der am Bierstand steht, sagt: »Wenn man genau hinhört, hört man was anderes.«
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.