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Thüringen: Armut ist gleich soziale Ausgrenzung

18,9 Prozent der Menschen im rot-rot-grün regierten Bundesland sind arm

  • Sebastian Haak, Erfurt
  • Lesedauer: 4 Min.

Ein paar wenige Prozentpunkte nach oben, ein paar wenige Prozentpunkte nach unten, aber im Kern doch ziemlich konstant – so präsentiert sich die sogenannte Armutsquote in Thüringen seit Jahren. Zuletzt lag sie ziemlich exakt bei 18,9 Prozent; was meint, dass etwa jeder fünfte Thüringer nur über so wenige materielle Ressourcen verfügt, dass er als arm gilt. In Zahlen heißt das: Das Einkommen, dass er zur Verfügung hat, liegt nach dieser Definition von Armut bei weniger als 60 Prozent des Einkommens, das ein Durchschnittsverdiener zur Verfügung hat.

Was ziemlich abstrakt hergeleitet wird, hat im Leben der Betroffenen ganz konkrete Auswirkungen, die allerdings heute – im modernen Sozialstaat – ganz andere sind als in früheren Zeiten. Etwa im Vergleich zu den Zeiten, so stellt das Thüringens Arbeits-und Sozialministerin Heike Werner am Donnerstag während einer Regierungserklärung im Thüringer Landtag gegenüber, in denen der junge Karl Marx lebte. Dass Werner ausgerechnet diesen Vergleich zieht, mag ebenso an einem aktuellen Kinofilm zum Leben des jungen Philosophen liegen wie daran, dass Werner ein Parteibuch der LINKEN hat.

Allerdings, aus diesem oder aus jenem oder aus beiden Gründen, hat Werner freilich Recht: Vor vielen Jahrzehnten – Werner: im Zeitalter »des frühen Industriekapitalismus«, also im 19. Jahrhundert – bestimmten Elend und existenzielle Nöte das Leben von armen Menschen. Wer arm war, konnte morgen schon wegen Hunger sterben. Heute, sagt Werner, sei derartige Elendsarmut jedenfalls in Deutschland »eher untypisch«. »Armut tritt nicht zwingend in ihren extremsten Erscheinungsformen, wie etwa der Obdachlosigkeit oder dem Erleiden von Hunger, auf«, sagt sie.

Was nicht ausschließt, dass es solche Formen von Armut auch in Deutschland noch immer gibt und es einen wissenschaftlichen bewiesenen Zusammenhang zwischen Armut und Lebenserwartung gibt: Arme Männer würden in Deutschland etwa elf Jahre früher, Frauen etwa acht Jahre früher sterben als der Durchschnittsdeutsche, unterstreicht Werner, die dann mit Blick auf das große Ganze aber doch hinzufügt: Die menschlichen Grundbedürfnisse nach Wohnen und Essen seien heute auch für die meisten derjenigen zu realisieren, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens zur Verfügung hätten »und damit statistisch als arm gelten«. Eben weil das soziale Netz in Deutschland bei aller Kritik – zum Beispiel an Hartz-IV – eben doch zumindest existenziell funktioniert.

Armut, sagt Werner, äußere sich heute dagegen eher in der sozialen Ausgrenzung von Menschen, die arm seien oder nah an der Armutsschwelle lebten – womit man sicher ganz im Sinne von Marx eine Debatte darüber beginnen könnte, wie lebenswert ein Leben voller Ausgrenzung überhaupt ist. Menschen etwa, die ihren Kindern keinen eigenen Computer für die Schulaufgaben zur Verfügung stellen oder die sich die Mitgliedschaft in Vereinen nicht leisten könnten, gehörten heute ebenso zu den Armen der Gesellschaft wie Menschen, die regelmäßig zur Tafel oder Kleiderkammer gehen müssten und solche Gänge fest in den monatlichen Haushaltsplan der Familie einkalkuliert hätten. Armut, so Werner, sei heute also vor allem, von der Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen zu sein. Von etwas, das für viele Menschen selbstverständlich ist.

Diese Ausgrenzung ist dabei nicht nur eine, die arme Menschen in Thüringen und Deutschland sich einbilden. Bestimmt nicht. Mit den Werten aus dem »Thüringen Monitor« 2015 ist diese Ausgrenzung, ja diese Stigmatisierung, wie Werner sie auch nennt, sogar messbar geworden. Wenn im Rahmen dieser von der Landesregierung in Auftrag gegeben Langzeitstudie festgestellt wurde, dass etwa jeder zweite Thüringer der Aussage zustimmt, Langzeitarbeitslose würden sich »auf Kosten der Anderen ein schönes Leben« machen, dann bekommt man zumindest eine vage Vorstellung davon, wie groß die Vorurteile sind, mit dem arme Menschen zu kämpfen haben – die freilich nicht immer arbeitslos sein müssen, Stichwort: Arm trotz Arbeit. Dass den Daten des Thüringen Monitor nach auch mehr als jeder Dritte, der selbst arbeitslos ist, diese abwertenden Einstellungen teilt, macht diese Vorurteile für die Betroffenen nur noch drückender.

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