Zu viel Zukunft, nirgends

Der US-Autor Tim Mohr erzählt, wie die Ostpunks zum Mauerfall beigetragen haben

  • Michael Pöppl
  • Lesedauer: 4 Min.

Mit Vollbart, Hornbrille und Basecap sieht Tim Mohr eher wie ein intellektueller Rapper als wie ein Punk aus. Der New Yorker ist ein bekannter Journalist und Übersetzer, zum Beispiel übertrug er Wolfgang Herrndorfs »Tschick« ins US-Amerikanische und hat als Ghostwriter für Musiklegenden wie Paul Stanley von »Kiss« geschrieben. Dem Phänomen Punk begegnete Mohr Anfang der 1990er Jahre im wilden Berliner Nachtleben, er studierte und arbeitete als DJ in diversen Clubs und lernte dabei einige Akteure der Ostberliner Punkszene kennen. Die Begegnungen faszinierten ihn, über 20 Jahre hat er immer wieder recherchiert. »Das waren solch unglaubliche Geschichten, die ich einfach allen Leuten weitererzählen wollte.« Aus dem Langzeitprojekt wurde das jetzt erschienene Sachbuch »Stirb nicht im Warteraum der Zukunft - Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer«.

Derzeit ist Mohr auf Lesetour in Deutschland, Österreich und der Schweiz unterwegs. Mit dem Musiker Brezel Göring von »Stereo Total« besucht er nicht nur Punkhochburgen wie Berlin, Zürich oder Hamburg. Gerade in Chemnitz, Erfurt, Leipzig, Dresden oder Jena, überall da, wo es zu DDR-Zeiten eine Punkszene gab, ist der Andrang groß. Auf einem Split-Screen im Hintergrund laufen private Videos von Ostpunks neben schwarz-weißen Überwachungsfilmen der DDR-Staatssicherheit. Zwischen den Lesungsteilen hört man Ostpunksongs aus den 1980ern.

Sehr persönliche Geschichten sind aus Mohrs Interviews entstanden: So wie die von Britta aus Köpenick, genannt »Major«. Die 15-Jährige sieht 1977 die Sex Pistols zum ersten Mal in der »Bravo«, die ihr die Halbschwester aus dem Westen mitbringt. Die derangierten Klamotten und das coole Gehabe der Band faszinieren sie. Als sie dann den Pistols-Song »Pretty Vacant« im Westradio hört, ist es ein Erweckungserlebnis: »Gerade so, als hätte jemand in ihrem Inneren einen Schalter umgelegt, als hätte das Stück etwas ausgelöst, das schon lange in ihr geschlummert hatte, das sie aber eben erst wahrgenommen hatte.«

Als »Major« dann mit abgeschnittenen Haaren und löchrigen Klamotten in der Schule auftaucht, fängt der Ärger mit der Obrigkeit an. Im Jugendklub im Plänterwald trifft die Einzelkämpferin andere Punks. Viele der Jugendlichen haben längst keine Lust mehr auf die bis ins Detail geregelte Zukunft im Sozialismus: »Too Much Future« ist das Motto der Ostpunks. Die Szene trifft sich anfangs noch in staatlichen Klubs oder an öffentlichen Orten wie dem Alexanderplatz, Volkspolizei und Stasi überwachen sie argwöhnisch. Bald finden die Punks bei Kirchengemeinden mit Offener Jugendarbeit Unterschlupf, die Pfingstkirche in Friedrichshain wird Ausgangspunkt weiteren Widerstandes. Bei den Aktionen der »Kirche von Unten« 1986 sind viele der Punks bereits in den Organisationsteams.

Für die Staatssicherheit sind Punks »dekadente nicht-konforme Elemente«, sie gelten als staatsfeindlich. Ebenso wie die Bands, die sich gründen; die Punk-Combos heißen »Namenlos«, »Planlos«, »Wutanfall« oder »Schleimkeim«, das Spielen der Instrumente bringen sie sich selbst bei, Anlagen und Instrumente werden auch »aus dem Westen« organisiert, der Sound ist so simpel, wie Punk nun mal sein muss, die Texte provokant: »Überall wohin’s dich führt/ wird dein Ausweis kontrolliert/ und sagst du einen falschen Ton/ was dann geschieht, du weißt es schon«, singt Planlos.

Konzertverbote, brutale Prügelaktionen und willkürliche Knaststrafen führen zur offenen Konfrontation mit der Staatsmacht. Nach einer Verhaftungswelle 1983 gehen zahlreiche Punks ins Gefängnis, einige, wie »Major«, werden später in den Westen abgeschoben. Inzwischen ist aber bereits die zweite Punk-Generation aktiv. Nächtliche Graffiti-Aktionen oder das Stören von SED-Demos mit Rosa-Luxemburg-Transparenten sorgen für Aufsehen, auch bei den Westmedien. Die Stasi wirbt mit Knastdrohungen auch einige Spitzel aus der Szene. Doch auch der Druck der Staatsgewalt kann die Jugendlichen nicht mehr schrecken. Mohr hat sich durch Berge von Stasiunterlagen gekämpft und kommt zu dem Schluss, dass die »Paranoia der Sicherheitsbehörden« und deren rigoroses Vorgehen für eine Politisierung der an sich unpolitischen Jugendbewegung sorgten. Durch das Zusammenspiel der sehr agilen Punkszene mit anderen Dissidentengruppen der DDR sei so der Widerstand entstanden, der letztendlich die Mauer niedergerissen habe.

Tim Mohr: Stirb nicht im Warteraum der Zukunft - Die ostdeutschen Punks und der Fall der Mauer, Heyne Hardcore. 560 Seiten, 19,99 €. Letzte Lesung am 15. Mai, 20 Uhr, im West Germany, Skalitzer Straße 133, Kreuzberg.

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