Links? Rechts? Merkel!

Anspruchsdeflation und sozial-räumliche Spaltung: Über den »tieferen« Rechtsruck und Hausaufgaben für die Linken. Ein Debattenbeitrag

  • Alban Werner
  • Lesedauer: 8 Min.

In Nordrhein-Westfalen gab es zwar wie bei den vorherigen Landtagswahlen vordergründig einen parteipolitischen Rechtsruck. Es ist ärgerlich, vor allem weil dadurch DIE LINKE in NRW in der Tat das ›ärgerlichste aller Wahlergebnisse‹ einfährt. Aber das gilt eben nur vordergründig – der tatsächliche Rechtsruck liegt tiefer, als allein an Wahlergebnissen sichtbar ist, er ist nicht neu, sondern wird durch die Wahlen nur konsolidiert und nicht erst erzeugt. Die wahlpolitische Auseinandersetzung in Deutschland spielt sich nun ab zwischen den Polen ›Keine Experimente‹ einerseits, verzagter Reformbereitschaft und Bedürfnis nach mehr Gerechtigkeit sowie diffusen bis rechten Protesthaltungen andererseits.

Zwar gewinnt die Union, aber es handelt sich ganz deutlich um eine Merkel-CDU: Die WahlgewinnerInnen Armin Laschet in NRW und Annegret Kramp-Karrenbauer im Saarland sind beide wichtige UnterstützerInnen Merkels, und der schleswig-holsteinische Wahlsieger Daniel Günther tritt zwar für ein Ende der geltenden Doppelpass-Regelung, aber auch für Öko-Landwirtschaft sowie Ehe- und Adoptionsrecht für Homosexuelle ein. Trotz ihres Blinkens in eine ›Law and Order‹-Richtung wie zuletzt im nordrhein-westfälischen Landtagswahlkampf, um Geländeverluste an die AfD zu verhindern und eine offene Flanke der rot-grünen Landesregierung auszubeuten, ist es also eine nach vielen Maßstäben ›linksliberalisierte‹ Union, die hinzugewinnt und kein rechtsdemokratischer Kampfverband wie die CDU Alfred Dreggers oder Roland Kochs.

Merkels Um-Ordnung der Wählerschaft

Es scheint, dass nach anfänglichem Erfolg von Martin Schulz, den Prozess aufzuhalten, es der Merkel nun doch gelingt, ein sog. ›Re-Alignment‹ voranzuschieben (ob gezielt oder nicht). Damit bezeichnet man im sozialwissenschaftlichen Fachchinesisch, wenn eine Partei erfolgreich aus der Wählerbasis anderer Parteien Milieus ›herauslöst‹ und dauerhaft zu sich lockt. Im Ergebnis verschieben sich nicht nur die Wahlergebnisse, sondern die Ausgangslagen im Parteienwettbewerb selbst. Inhaltlich gelang es Union und FDP, das Gewicht der Auseinandersetzungen auf Felder wie Infrastruktur, Verkehr, Bildung und Sicherheit zu verschieben, wo es entweder darum geht, den Versorgungsstandard zu halten oder technisch zu verbessern (und wer gönnte den Leuten im Ruhrgebiet nicht, seltener auf der A40, dem ›größten Parkplatz Europas‹ im Stau zu stehen oder allen EinwohnerInnen Nordrhein-Westfalens, sich weniger vor Wohnungseinbrüchen zu fürchten?), oder wo man nicht (mehr) bereit ist, die durch Reformen aufgenötigten Zumutungen in Kauf zu nehmen wie bei der Inklusion und dem Hin und Her bei den Abiturregelungen im Schulbereich. Zudem spielte die unruhige Weltlage eine Rolle, und ähnlich wie 2013 auf dem vorläufigen Höhepunkte der Eurokrise zieht es die Leute zu Angela Merkel als Ruhepol und personifiziertem Schutzschirm, und damit zu ihrer Partei.

Die Aufmerksamkeit verschiebt sich weg von der sozialen Frage, bei der mangels neoliberaler Generalangriffe seitens der Union ohnehin keine Bedrohung ansteht. Ein Grund zur völligen Entwarnung besteht allerdings nicht. Denn wenn Union und FDP auch keinen offenen Angriff auf Beschäftigtenrechte und soziale Absicherung durchsetzen können, so können sie doch viel anrichten oder verschlimmern, indem sie bspw. auf Landesebene eine soziale Wohnungspolitik oder Tariftreue ausbremsen, was die soziale Spaltung in den Städten verstärken wird. Auf Bundesebene könnte eine CDU-geführte Bundesregierung ohne viel Zutun dafür sorgen, dass der Ausweitung nicht mehr innerfamiliär verrichteter, sondern privat bezahlter Sorgearbeit und dem Digitalisierungsschub in der Wirtschaft de facto ein Deregulierungsschub auf dem Arbeitsmarkt folgt. Dazu reichte schon, dass einfach unterlassen wird, die Arbeitsmarktregulierungen mit den Veränderungen der häuslichen Reproduktion sowie der kapitalistischen Produktionsweise Schritt halten zu lassen (der Fachjargon spricht dann von ›drift‹, vom Verblassen von Institutionen gegenüber den dynamischen gesellschaftlichen Entwicklungen). Auf dem Wohnungs- und Arbeitsmarkt würden sich die nachteiligen Veränderungen nicht schlagartig, sondern erst nach und nach bemerkbar machen – eine soziale Spaltung, die zwar auf leisen Sohlen, aber mit umso weitreichenderen Folgen daherkommt.

Städte und ländliche Regionen

Neben diesen Verschiebungen, denen die politische Linke unter Umständen noch durch bessere handwerkliche Arbeit und wahlkampftaktische Finesse begegnen könnte, muss ihr aber vor allem die allgemeine Korrektur der Ansprüche nach unten Sorge bereiten. Die Leute wollen zwar durchaus mehr Gerechtigkeit, mehr öffentliche Dienstleistungen, weniger Ungleichheit zwischen Einkommen, Geschlechtern und Altersgruppen, aber anscheinend sehen sie das bei Merkel & Co. gut genug aufgehoben. Oder ihr Wunsch danach reicht dann noch nicht soweit, die gesellschaftspolitischen Konflikte in Kauf zu nehmen, die anstünden, wenn man die Regulierungen, die Umverteilungen von Macht, Vermögen, Einkommen, Ansehen und Lebenschancen vornähme, die effektiv nötig wären, um gerechtere Zustände zu erreichen. Merkel ist die Kandidatin der Konfliktvermeidung, die Garantin kleinschrittiger Verbesserungen, die möglichst niemandem weh tun – und wenn doch, dann schmerzen sie nur bei ohnehin Benachteiligten, für die sich außer der LINKEN niemand so recht mobilisieren lässt.

Gleiches Gewicht wie die allgemeine Korrektur der Ansprüche nach unten hat die sozial-räumliche Polarisierung, von der heute immer mehr westliche Gesellschaften geprägt werden, über die sich die Linke – und nicht zuletzt DIE LINKE – den Kopf zerbrechen muss, denn die darin benachteiligte Seite artikuliert sich politisch nach rechts. Es scheint, dass DIE LINKE in Universitätsstädten reüssiert, aber in deindustrialisierten städtischen sowie in ländlichen Regionen zurückfällt. Nahezu alle 25 bestplatzierten Wahlkreise der NRW-LINKEN liegen in Städten, die mindestens eine Hochschule oder Fachhochschule beheimaten, während viele Ruhrgebietswahlkreise deutlich ins Mittelfeld zurückgefallen sind, Schlusslichter bilden die ländlich geprägten Wahlkreise. Zugleich erzielte die AfD in klassischen Ruhrgebietsstädten wie Duisburg, Gelsenkirchen und Recklinghausen zweistellige Ergebnisse, wie Horst Kahrs und Benjamin Immanuel-Hoff in ihrem Wahlnachtbericht anmerken. Das ist ein deutliches Warnsignal: Die wahlpolitischen Problemzonen der LINKEN und AfD-Kerngebiete stimmen überein mit dem Profil von Hochburgen des erfolgreichen Rechtspopulismus in anderen Ländern (Frankreich, USA, Großbritannien, Österreich usw.).

Hausaufgaben für DIE LINKE

Kahrs und Hoff geben der LINKEN richtigerweise die Hausaufgabe mit auf den Weg, mittelfristig werde »die Partei sich mit der Frage beschäftigen und sie plausibel beantworten müssen, warum sie bei einer so großen Bewegung von früheren Wählerinnen und Wählern der Parteien links von der Union, von Grünen, SPD und Piratenpartei landesweit in nur so geringem Maße als Alternative in Frage gekommen ist«. Auf die Gefahr hin, zum üblichen linken ›Müsst-i-zismus‹ beizutragen, der immer nach Wahlniederlagen Hochkonjunktur feiert, folgen hier einige Vorschläge, was praktisch zur Erfüllung der Hausaufgabe folgen sollte.

DIE LINKE muss ein glaubwürdiges Konzept für die Wiederbelebung deindustrialisierter und ländlicher Regionen schaffen, in denen anders als in den urbanen Zentren keine selbsttragenden Wachstumsprozesse durch expandierende öffentliche und private Dienstleistungen und Digitalisierung wahrscheinlich sind. In den urbanen Zentren wiederum muss DIE LINKE Bündnisse schmieden oder ausbauen gegen die o.g. Spaltungen, die am Arbeits- und Wohnungsmarkt, innerhalb und zwischen den Stadtteilen, zwischen Alteingesessenen und Zugezogenen sich zu verstärken drohen. Vermutlich noch wichtiger als einzelne öffentlichkeitswirksame Aktionen dürfte hierbei sein, Leute mit hohem Bekanntheitsgrad und Ansehen als MultiplikatorInnen zu rekrutieren, um in bislang noch unerschlossene soziale Milieus vorzustoßen. Parlaments- und stellvertretungspolitische Fixierung alleine mögen dabei irreführend sein, aber Bewegungsfetischismus ist es nicht weniger.

Eine politische Arena ist per se weder gut noch schlecht für linke Politik. Zu fragen ist vielmehr, auf welchem Gebiet sozialistische Politik Aufmerksamkeit für ihre Ziele schaffen und BündnispartnerInnen gewinnen kann, wo sie mobilisierungs- und konfliktfähig ist. DIE LINKE muss versuchen, Jung- und ErstwählerInnen kontinuierlicher zu erreichen, weil unter diesen sowohl der Abstand zwischen den Parteien als auch die Bindungen zu den jeweiligen Parteien geringer ausfallen als bei Älteren. Hier hat DIE LINKE die größte Chance, ohne Beeinträchtigungen durch die üblichen Stigmatisierungen als SED-Nachfolger oder ›Hort des Wahnsinns‹ dauerhaft Bindungen zu schaffen. Hier liegen auch vernachlässigte Potentiale nahezu aller Parteien begraben, denn wer sich mit dem Infostand morgens vor eine Berufsschule oder in den Vorort einer größeren Stadt stellt, hat gute Chancen, dort als Einziger und dadurch schnell im Mittelpunkt zu stehen, während die Parteien sich auf den Marktplätzen der Stadtzentren gegenseitig auf die Füße treten und dabei noch mit allerlei Einkaufsmöglichkeiten um die Aufmerksamkeit des Publikums konkurrieren müssen.

Abschrecken – oder ausstahlen?

Schließlich muss DIE LINKE den Mitgliedern ein gutes Angebot machen, die wie aktuell in NRW als Reaktion über das als unglücklich und unfair empfundene knappe Scheitern sich einen Ruck geben und der LINKEN beitreten, oder die sich nach Auszeit wieder in der Partei engagieren wollen. Ohne eine negative Meinungsmache durch die Medien völlig bestreiten zu wollen, ist der teilweise schlechte Ruf der LINKEN in NRW und anderswo durchaus selbst- und eben nicht nur fremdverschuldet. Leute zu Parteiveranstaltungen mitzunehmen sollte geeignet sein, sie als Interessierte an DIE LINKE zu binden und nicht, sie möglichst schnell wieder abzuschrecken.

Abschreckend wirken mit Sicherheit unwürdige Auseinandersetzungen um Vorstandsposten und Listenplätze, aber auch das Abarbeiten an nicht totzukriegenden altlinken Themen (Nahostkonflikt, US-Imperialismus, Untergangsszenarien zum Kapitalismus, angebliche Verschwörungen neoliberaler Hintermänner), deren Bedeutung für politische Aufgabenstellungen vor Ort und auf Landesebene eher gering zu veranschlagen ist. Wenig sexy wirken auch welterklärende Referate und Ko-Referate, die zudem bei den ZuhörerInnen eher das Gefühl eigener Machtlosigkeit verstärken als das Gegenteil.

Eine Partei als ausstrahlungsfähige Organisation, die unterschiedliche Perspektiven potentiell Interessierter respektiert, anzieht, zusammenführt, bündelt und zu einem handlungsfähigen politischen Willen schmiedet verträgt sich bereits mittelfristig nicht mit der Atmosphäre linksradikaler Feuchtbiotope, denen die öffentliche Reputation gleichgültig ist. Es kommt ziemlich bald der Punkt, wo man sich zwischen beiden entscheiden muss.

Alban Werner ist 1982 in Aachen geboren und war von 1999 bis 2004 Mitglied bei der SPD. Seit 2005 ist er bei DIE LINKE auf verschiedenen Ebenen aktiv. Der Politikwissenschaftler schreibt u. a. in »Sozialismus« und »Das Argument«.

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