Sehnsucht nach dem Stahlbad

Zum Abschluss des Berliner Theatertreffens zeigte Shootingstar Ersan Mondtag das bildmächtige Stück »Die Vernichtung«

  • Christian Baron
  • Lesedauer: 5 Min.

Es gibt ein Element, das beinahe jede schlechte Theaterinszenierung kennzeichnet: Szenenapplaus. Anders als ein Musical oder ein Fußballspiel, deren Qualität sich eher beim Fehlen jeglicher Beifallsintermezzi als suboptimal herausstellt, droht das Schauspiel im Falle ständig dazwischenklatschender Begeisterungstäter zu dem zu geraten, wovor sich der Theaterbetrieb in Zeiten der Volksbühnenübernahme durch den Festivalfreund Chris Dercon ängstigt: zum Event. Zu schmuddelig, weil massentauglich klingt der Begriff für viele Gefolgsleute der Hochkultur.

Bei der letzten Premiere des diesjährigen Berliner Theatertreffens sollte es am Samstagabend bis kurz vor dem Ende dauern, ehe erstmals, dafür aber umso stürmischer ein Episodenjubel ausbrach. Jonas Grundner-Culemann riss sich in dieser Szene sein bunt bemaltes Nacktheitskostüm von Leib, rannte gorillagleich brüllend über die als endzeitlicher Garten Eden errichtete Bühne und sprang in den Teich. Eine Erfrischung nach den für das Ensemble körperlich anstrengenden anderthalb Stunden zuvor, die sich in diesem eruptiven Moment bis in die Zuschauerreihen hinein ausbreitete. Was Ersan Mondtag, der 30-jährige Shootingstar der Regisseurskunst, dem Publikum da zumutete, das lässt sich schon mit ihm versehen, dem schmierigen Stempel des Events.

Mondtag, der auch für Bühne und Kostüme verantwortlich zeichnet, brachte Olga Bachs Stück »Die Vernichtung« im Oktober 2016 am Konzert Theater Bern heraus und durfte damit jetzt den bildgewaltigen Schlusspunkt der alljährlichen Branchenbegegnung in der Bundeshauptstadt setzen. Vier Menschen sehnen sich in einem paradiesischen Setting labernd der Vernichtung der Welt entgegen. Sie gehören zur intensiv erforschten und viel verspotteten »Generation Y« - jene Kohorte junger studierender oder studierter Menschen »um die 30«, die als unpolitisch, wohlstandsgesättigt und gelangweilt gilt. Als Folge dieser Attribute lässt Olga Bach ihre Figuren eine Paranoia vorführen. Die Mischung aus neoliberaler Propaganda (»Wer nichts zur Wertschöpfung beiträgt, hat keinen Wert für diese Gesellschaft«), rechten Verschwörungstheorien (»Die Massenmigration gehört zu einem großen Chaosplan«) und Pennälergedanken (»Habt ihr schon mal einen gesehen, der getötet wurde?«) mündet in eine düstere Zeitdiagnose, die an den Vorabend des Ersten Weltkriegs erinnert.

Damals waren es in Deutschland ebenfalls (wenn auch bereits arrivierte) Intellektuelle, die öffentlichkeitswirksam ein »Stahlbad« forderten, weil ihnen die Gegenwart nicht aufregend genug erschien. Bei Bach und Mondtag finden die Hedonisten noch Trost in exzessivem Drogenkonsum, womit auch die 68er mit ihren Freiheitsversprechen in den Blickwinkel geraten. Fragmentarisch und wenig zusammenhängend beutet das Stück damit alles für sich aus, was es derzeit an negativen Eigenschaften über die jungen Akademiker zu lesen, zu sehen und zu hören gibt. Im Zeichen von Brexit, Trump und dem Beinahesieg von Le Pen gewinnt die Perspektive dieser Produktion eine ganz besondere Aktualität.

Acht Inszenierungen wurden beim 54. Theatertreffen gezeigt - die Ensembles von »Die Räuber« (München) und »Der Schimmelreiter« (Hamburg) konnten aus technischen und gesundheitlichen Gründen nicht anreisen. Alle Anwesenden einte der Anspruch, ihre Kunst als Kommentar zu besagten politischen Themen verstanden wissen zu wollen. Das reichte bis zu der Performance »Real Magic«, die eine irre Quizshow mit wenigen sich stets wiederholenden Sätzen ästhetisiert. Tim Etchells beschreibt im Begleitband, was uns Forced Entertainment mit dem absurden Auftritt eigentlich sagen will: Demnach sollte das alles, auch wenn es sich in der Aufführung nirgends erschloss, die Hysterie und Komplexität in Zeiten von Donald Trump erkunden. Wohl dem, der Programmhefte liest!

Einen dicken Roman von Peter Richter musste zur Vorbereitung lesen, wer Claudia Bauers Adaption von »89/90« begreifen wollte - eine Geschichte vom Ende der DDR, in der unter anderem rechtsradikale Jugendliche menschliche Ziele für ihre Baseballschläger suchen. Extreme Gewalt spielte auch bei Milo Raus »Five Easy Pieces« eine Rolle. In seiner brillanten Arbeit rekonstruierte er mit Kindern die Verbrechen des Kindermörders Marc Dutroux.

Dadaistisch setzte sich der Volksbühnenabend »Pfusch« von Herbert Fritsch mit der neuesten Unübersichtlichkeit auseinander. »Traurige Zauberer«, die »stumme Komödie mit Musik« aus Mainz, präsentierte das Streben nach Glück trotz menschlicher Niedrigkeit. In »Drei Schwestern« baute Simon Stone wiederum ein Glashaus wie aus dem Wunschkatalog für Wohlstandskinder. Ein Milieu, das auch Kay Voges in der »Borderline Prozession« in einem auf die Bühne gezimmerten 10-Zimmer-Gebäudekomplex in den Fokus rückte.

Damit dominierte beim Theatertreffen eine Sicht auf jenen gediegenen Retro-Mittelstands-Chic, den auch Ersan Mondtag thematisiert. Im Publikum von »Die Vernichtung« saßen am Wochenende ausnehmend viele Vertreterinnen und Vertreter jener Generation, die auf den Berliner Bühnen in den vergangenen zwei Wochen ordentlich eins auf den Deckel bekam. Sie waren es auch, die den eingangs erwähnten Szenenapplaus während der Premiere initiierten und am Ende - inmitten zahlreicher »Buhs« für den Regisseur - während des Schlussbeifalls immer wieder »Saugeil!« riefen. Ist die zwischendurch mit allerlei Händen bekundete Freude also auch hier Symptom einer schlechten Darbietung?

Wohl kaum. Denn formal erweist sich Ersan Mondtag als das, wofür ihn das Gros der Theaterkritik hält: visionär. Inhaltlich jedoch ist »Die Vernichtung« ebenso belanglos wie die kritisierte Lebenswelt, als deren Teil sich Mondtag in seinem öffentlichen Auftreten offenbart. Zum Beispiel, als er in einem Gespräch mit Jan Küveler von der »Welt« sagte: »Wenn einer auf der Bühne steht, muss er dem folgen, was ich sage. Steht auch in seinem Vertrag. Wo kämen wir denn hin, wenn alle ein Vetorecht hätten?« Das nämlich ist nur die eine Seite. Beschönigend federt er seine ehrliche Despotenhaltung mit einem kuscheligen Ambiente ab, das er im Interview mit »Bild« so umschrieb: »Ich habe eine Liebesbeziehung zu meinen Schauspielern. Wir küssen uns alle auf den Mund.« Voll lieb.

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