Gegen linke Illusionen
Warum wir das Werk von Karl Marx heute noch brauchen? Um das Ganze des Kapitalismus zu begreifen
Gott sei Dank haben wir uns von dem Wahn befreit, es gäbe so etwas wie »marxistische« Parteien, die nach einer Doktrin denken, handeln und einer einheitlichen Weltanschauung zu huldigen haben. Man kann in den Parteien der Linken überall auf der Welt Marxist sein, man braucht es nicht zu sein. Die alte Sozialdemokratie hatte gar nicht so unrecht, als sie den »Marxismus« als offizielle Parteidoktrin beiseitelegte. Soweit der Marxismus Sozialwissenschaft ist, kann und darf er keine Parteisache sein.
Wenn wir aber den »Marxismus« als Parteidoktrin nicht (mehr) brauchen, wozu brauchen wir dann noch Marx (bzw. einige der Marxisten nach ihm)? Wir brauchen ihn nicht als Ikone. Marx wie Engels hassten jede Form von Personenkult, wie er auch in der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts schon im Schwange war. Sie misstrauten allen Berufspolitikern und hatten deshalb für »Berufsrevolutionäre« wenig übrig. Ihre Parteiloyalität hatte klare Grenzen. Sie behielten sich das Recht vor, etwaigen Unsinn, den Parteigrößen hinausposaunten, öffentlich anzugreifen. Sie waren eben Männer und keine Parteibeamten.
Michael R. Krätke, Jahrgang 1950, gehört zu den profundesten Marx-Kennern hierzulande.
Nach einem Studium der Politikwissenschaft, Soziologie und Ökonomie in Berlin war er zunächst Professor für Politische Ökonomie an der Universiteit van Amsterdam, heute lehrt er an der britischen Lancaster University. Krätke ist unter anderem Mitherausgeber der linkssozialdemokratischen »Zeitschrift für sozialistische Politik und Wirtschaft« und sitzt im wissenschaftlichen Beirat der »Beiträge zur Marx-Engels-Forschung. Neue Folge«. Der nebenstehende Text ist ein Vorabdruck aus seinem neuesten Buch: »Kritik der politischen Ökonomie heute. Zeitgenosse Marx«, das im Juni im Verlag VSA Hamburg erscheint (248 Seiten, 19,80 Euro, ISBN 978-3-89965-732-6).
Karl Marx war ein selbstkritischer Autor, oft unzufrieden mit seinen Arbeiten und immer bereit, seine Texte umzuarbeiten – was von Patentmarxisten gern ignoriert wird, die ihn besser zu verstehen meinen als er sich selbst. Wer heute von politischer Ökonomie spricht, muss sich überdies vor Missverständnissen hüten. Was im 19. Jahrhundert noch gang und gäbe war, was selbst im 20. Jahrhundert in Deutschland und in den USA noch den Stil der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit der Ökonomie prägte, spielt heute keine Rolle mehr. Die Neoklassik wird von ihren Protagonisten vor allem als unpolitische Wissenschaft verstanden. Deshalb geht es heute faktisch um die Kritik der unpolitischen Ökonomie: rücksichtslose Kritik der Dogmen und Pseudotheorien, deren Glaubwürdigkeit dank der jüngsten großen Krise des kapitalistischen Weltsystems dahinschmilzt. Und dafür ist die Beschäftigung mit dem Hauptwerk des Zeitgenossen Marx unentbehrlich.
Weite Infos und Bezugsmöglichkeiten unter vsa-verlag.de
Wir brauchen Marx zuerst und vor allem als Kritiker des Kapitalismus. Alle antikapitalistischen Bewegungen müssen sich darüber klar werden, was das ist, was sie da eigentlich kritisieren und bekämpfen. Um nicht in Sektiererei zu verfallen, brauchen sie eine klare, rationale und radikale Form der Kapitalismus-Kritik, die sich nicht an diesem oder jenem »Auswuchs« – den »Heuschrecken«, der »Spekulation«, den »Multinationalen Konzernen« etc. – festbeißt, sondern aufs Ganze geht und dies Ganze auch im Kern und an der Wurzel trifft.
Vielen der heutigen »globalisierungs-kritischen« Bewegungen fehlt eben das – eine gesunde Prise rationaler, systematischer Kapitalismus-Kritik. Kapitalismus heute (wie damals) ist eben mehr als ein paar empörende Praktiken, mehr als Wirtschaftskriminalität, mehr als Spekulationsblasen, obwohl all das dazu gehört. Obwohl Marx den Ausdruck »Kapitalismus« nicht geprägt hat (er sprach von »kapitalistischer Produktionsweise«), hat er doch die erste analytisch scharfe, sachlich treffende Fassung der historischen Eigenarten, der spezifischen Formen, der eigentümlichen Dynamik sowie der typischen Krisen und selbst erzeugten Konflikte des modernen Kapitalismus geliefert. Natürlich ist mit Marx’ Kritik das letzte Wort über den modernen Kapitalismus, seine Entwicklung und seine möglichen Zukünfte bzw. sein nahes oder fernes Ende noch nicht gesprochen.
Gerade heute ist Marx’ radikale Kapitalismuskritik aktueller denn je. Denn die Phänomene, mit denen wir heute zu tun haben, die weltweiten Finanzmarkt- und Spekulationskrisen, waren ihm durchaus nicht fremd. Im Gegenteil. Der ach so veraltete Marx liefert einige der analytischen Kategorien, die man braucht, um das aktuelle Geschehen zu begreifen. Nur in der Marxschen Kritik wird der Zusammenhang von Geld und Kapital zureichend gefasst, nur Marx verdanken wir die Kategorie und die Analyse des Geldes als Kapital, nur Marx kann erklären, warum Geld als Kapital sich verselbstständigen und vom Kreislauf des industriellen, produktiven Kapitals, von der kapitalistischen »Realökonomie« ablösen kann. Nur Marx, der die Geld- und Finanzmarktkrisen seiner Zeit genau studiert hatte, liefert in seiner fragmentarischen Darstellung des modernen Kredit- und Banksystems die Kategorien, mit denen man die Bewegungen einer Bubble- oder Spekulationsblasen-Ökonomie verstehen kann. Dazu gehört der Begriff des Geldfetischs ebenso wie der des Kapitalfetischs. Denn diese Vorstellungen beherrschen die Finanzmarktakteure, sie ermöglichen die »relative Selbstständigkeit« der Finanzmärkte, die einer speziellen Klasse von Bankokraten, Börsenspielern und Rentiers ihr Aktionsfeld liefern. Diesen Fetischdienern gelingt es dank ihrer Macht über das Geldkapital der Gesellschaft, die ganze Gesellschaft zum Dienst an ihrem Götzen zu zwingen.
Um die Finanzmärkte zu analysieren, hat Marx im dritten Buch des »Kapital« eine ganze Reihe von besonderen Kategorien entwickelt, für die es in der herrschenden Lehre der Ökonomie kein Gegenstück gibt. Wie Marx den Arbeitsmarkt als einen ganz besonderen Markt betrachtet, auf eine spezifische Ware, die fiktive »Ware Arbeitskraft« verhandelt wird, so betrachtet er die Finanzmärkte als besondere Märkte, auf denen ganz spezielle fiktive Waren gehandelt werden – Schulden, Kredite, Zahlungsforderungen und davon abgeleitete »Wertpapiere«. Einen »Wert« scheinen diese fiktiven, papierenen Waren zu haben, weil sie ein »fiktives Kapital« darstellen. Das fiktive Kapital ist es, was die Finanzmärkte regiert, die Finanzmarktkapitalisten sind seine Diener und Funktionäre, deren Handeln ganz und gar der Logik der »Kapitalfiktion«, des prozessierenden, in eine Ware verwandelten Kapitalfetisch gehorcht. Der Form nach ebenso, dem Inhalt nach ganz anders als »reales Kapital« (soweit es aus materiellen Produktionsmitteln besteht, die als Waren produziert wurden), kann auch fiktives Kapital »entwertet« werden. Genau darum geht es im Moment: Um die massenhafte Entwertung bis hin zur Vernichtung von fiktivem Kapital, das vollständig von Spekulationsgeschäften und deren Preiseffekten auf diversen Finanzmarktsegmenten abhängig ist.
Mit Marx lässt sich begreiflich(er) machen, was der herrschenden Lehre und den meisten Leuten ein Rätsel ist: Wie kann es sein, dass an den Finanzmärkten Milliarden verdient werden, dass angeblich dort »Werte« geschaffen werden, die sich dann in Luft auflösen? Wo sind die Milliarden geblieben? Nach der herrschenden Lehre gibt es entweder zu viel oder zu wenig Geld auf den Finanzmärkten. Aber in der Finanzkrise scheint beides gleichzeitig zu stimmen. Die Ursache der Spekulationsblase(n) ist angeblich »billiges« Geld, also zu viel Geld auf den Märkten. Gleichzeitig wird die Krise als eine reine Liquiditätskrise heruntergespielt – es fehle eben gerade mal an Geld, plötzlich gibt es wohl wieder »zu wenig Geld« auf den Märkten. Deshalb behaupten die Zentralbankiers im Brustton der Überzeugung, wie sie gelernten Dogmatikern eigen ist, sie hätten die Sache voll im Griff, einige Geldspritzen – mehr Liquidität – würden völlig ausreichen. Tatsächlich handelt es sich längst um eine Insolvenzkrise, die Banken sind überschuldet, weil sie in ihren Portefeuilles fiktives Kapital angehäuft haben, das sie mit Krediten – billig – kaufen konnten. Nun verschwinden die fiktiven Werte dieser fiktiven Kapitalien, aber die Schulden, mit denen die entwerteten Wertpapiere als vielversprechende »Finanzanlage« eingekauft wurden, bleiben und müssen zurückgezahlt werden. Für Marx hat dieses Reich der Fiktionen eigentlich nichts Überraschendes, für die Anhänger des »gesunden«, d.h. bürgerlichen und ökonomisch verbildeten Menschenverstands dagegen bleibt es auf ewig ein Buch mit sieben Siegeln. Auch deshalb brauchen wir Marx.
Zweitens brauchen wir ihn wie Friedrich Engels auch als rücksichtslosen Kritiker linker Illusionen, Dogmen und Patentrezepte. Da die gleichen linken und viele rechte Illusionen und Patentrezepte in Zeiten der Krise mit schönster Regelmäßigkeit immer wieder auftauchen – von der Abschaffung der Armut durch Umverteilung, über das Grundeinkommen, die Tauschbanken, die ganz radikale Geld- und Kreditreform, die Abschaffung des Zinses, die gemein- oder sozialwirtschaftlichen Inseln, die Vollbeschäftigung, den ganz »billigen« Sozialstaat bis hin zum »schuldenfreien«, konsolidierten Staatshaushalt – bleibt auch die Kritik von Marx und Engels (bzw. die späterer Marxisten) an solchen Projekten und Universalrezepten aktuell. Der utopische Anti-Kapitalismus ist und bleibt ein Symptom für die Krisen, in denen sich der moderne Kapitalismus bewegt und in die er die seiner Herrschaft Unterworfenen immer wieder stürzt. Eine Lösung ist er nicht. Die moderne Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts, so formulierten es Marx und Engels nach der Serie der Niederlagen von 1848-49, kritisiert sich selbst immer wieder, rücksichtslos. So klärt sie sich selbst auf.
Wir brauchen ihn auch als Vorbild für eine neue Studenten- und Gelehrtengeneration. Heute herrscht, dank erfolgreicher Säuberung der Universitäten von allen Resten kritischen Geistes, öder Konformismus, die Anpassung und Unterwerfung unter den herrschenden Kanon des Positivismus. In den Sozialwissenschaften geht nichts mehr, außer business as usual. Sozialwissenschaft als Wagnis, als Experiment, mit Sachkenntnis und Leidenschaft, ohne falsche Rücksichten, ohne Standesdünkel der Gebildeten und ohne Vorurteile, ohne Schielen nach dem Brötchengeber, das kann man nur noch an wenigen Ausnahmen studieren. Marx und Engels (obwohl beide in ihren späteren Jahren durchaus komfortabel und gut bürgerlich lebten) geben so ein außergewöhnliches Beispiel.
Wir brauchen Marx und Engels schließlich auch als Theoretiker des möglichen und des notwendigen Sozialismus, der Wirtschafts- und Gesellschaftsordnung jenseits des Kapitalismus. In dieser Rolle hat sich Marx seit jeher wenig Freunde gemacht. Denn das A und O der Marx- und Engelsschen Sozialismuskonzeption war gerade für Marxisten offenbar schwer zu verstehen: Der moderne Kapitalismus, und nur dieser, so Marx, bringt die materiellen, die intellektuellen und moralischen Voraussetzungen, die Produktivkräfte, viele neue institutionelle Formen und sonstige »Bildungselemente« und »Übergangsformen« hervor, die erst eine Gesellschaft mit nicht-kapitalistischer, sozialistischer Produktionsweise zu einer »reellen Möglichkeit« machen.
Ohne diese Vorarbeit des real existierenden Kapitalismus kann es eine nach-kapitalistische, sozialistische Produktionsweise und Gesellschaft nicht geben. Marx ist ein »(Vor-)Denker des Möglichen«, aber zugleich ein systematischer und analytisch scharfsichtiger Forscher, kein Prophet. Ein Sozialismusmodell hat er nicht zu bieten. Der »wissenschaftliche« Sozialismus von Marx und Engels bleibt anstrengend, eine Zumutung gerade für linke Freunde einfacher Lösungen. Über Marx’ und Engels’ Weigerung, sozialistische Modelle zu basteln, haben ihre linken Freunde schon zu ihren Lebzeiten gejammert. Der politische Gegner versuchte sie doch immer wieder (das war schon damals so) auf ein bestimmtes Bild von der »Zukunftsgesellschaft« festzunageln und rieb ihnen triumphierend das allfällige Scheitern »sozialistischer« und »kommunistischer« Experimente unter die Nase.
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