Sitzblockade für den Mitschüler
In Nürnberg wird ein Afghane aus der Schule geholt - die Solidarität mit ihm ist groß
Nürnberg. »Der Außenminister und ich sind uns einig, dass in maßvoller, bestimmter Weise Rückführungen nach Afghanistan zumutbar und notwendig sind, das betrifft eben insbesondere Straftäter.« Bundesinnenminister Thomas de Maizère ließ am Mittwoch keine Zweifel daran aufkommen, dass der verheerende Bombenanschlag in Kabul am Morgen keinerlei Bedenken hervorrufen konnte, dass Afghanistan vielleicht doch kein sicheres Land ist. Und wenn schon, mag man sich womöglich gedacht haben, mit dem Hinweis auf die Straftäter geht die Sache schon klar.
Straftäter? So wie der afghanische Schüler, der am Mittwoch aus einer Nürnberger Berufsschule geholt wurde, um ihn in Abschiebegewahrsam zu nehmen? »Wir sind zutiefst erschüttert von den Bildern, die uns heute aus Nürnberg erreicht haben.« Einen in der Ausbildung und seit vier Jahren in Deutschland lebenden jungen Menschen während der Schulzeit aus einem Klassenzimmer zu zerren, zeige »das neue, erschütternde Ausmaß des Abschiebeverhaltens der Bayerischen Staatsregierung«, kommentierte die Vorsitzende der bayerischen Jusos, Stefanie Krammer, den Polizeieinsatz. Die Bilder aus Nürnberg sind: Polizisten, die einen jungen Menschen aus seinem offenbar integrierten Leben herausreißen, protestierende Mitschüler und ein gewaltsames Vorgehen der Polizei. Als Polizisten den 20-Jährigen aus der Schule abholen wollten, gab es spontane Proteste. Mit Ausschreitungen, wie das Polizeipräsidium Mittelfranken mitteilte. Mit einer Sitzblockade und einer spontanen Demonstration versuchten mehrere Hundert Menschen die Abschiebung zu verhindern, es kam zu tumultartigen Szenen. Neun Polizisten sollen verletzt worden sein, fünf Personen wurden vorübergehend festgenommen.
Um die Abfahrt des Streifenwagens mit ihrem Mitschüler zu verhindern, hätten sich die Protestierenden auf die Straße direkt vor den Streifenwagen gesetzt, schilderte ein Polizeisprecher. »Es wurden dann immer mehr Personen, die sich der Blockade anschlossen.« Auf Facebook und Twitter verbreitete sich ein Aufruf, sich an der Schüler-Aktion zu beteiligen. Die Polizei sprach von zeitweise bis zu 300 Teilnehmern.
Die Einsatzkräfte seien mit einem Fahrrad und zahlreichen Flaschen beworfen worden. Einem Beamten sei ein Zahn ausgeschlagen worden. Die Polizei setzte Pfefferspray und Hunde mit Beißschutz ein. Zur Abwehr von Angriffen seien auch Schlagstöcke verwendet worden. »Es wurde mit den Schlagstöcken aber nicht geschlagen«, betonte der Sprecher. Von den Demonstranten sei niemand verletzt worden. Etwa 100 Personen, darunter viele Schüler, marschierten anschließend zum Ausländeramt der Stadt Nürnberg, um dort erneut gegen die Abschiebung zu demonstrieren. »Wir waren allerdings die falsche Adresse für den Protest«, so Behördenleiter Olaf Kuch, der mit einem Teil der Demonstranten sprach. Der Fall liege nicht mehr bei der Stadt, sondern bei der Zentralen Ausländerbehörde bei der Regierung von Mittelfranken (ZAB). Am Donnerstag soll auf Antrag der ZAB ein Richter darüber entscheiden, ob er in Abschiebehaft kommt. Zu den Hintergründen des Antrages wollte sich die Polizei nicht äußern.
Özlem Demir, Stadträtin der Linken Liste Nürnberg, sprach von »Polizeigewalt gegenüber den Demonstranten«. Auch die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) kritisierte die Polizeiaktion. »Es ist menschenrechtswidrig und menschenverachtend, wie hier das Bayerische Innenministerium agiert«, sagte Bayerns GEW-Vorsitzender Anton Salzbrunn.
Auch der Bayerische Flüchtlingsrat forderte einen sofortigen Abschiebestopp. Es könne nicht sein, dass alle anderen Bundesländer Zurückhaltung übten »und nur Bayern brachial abräumt«, sagte der Sprecher des Flüchtlingsrats, Stephan Dünnwald. »Keinem einigermaßen vernünftigen Menschen ist diese Bedenkenlosigkeit erklärlich.« Ein Sprecher des Innenministeriums sagte zu den Forderungen von Opposition und Flüchtlingsrat, für die Bewertung der aktuellen Sicherheitslage in Afghanistan sei die Bundesregierung zuständig.
Die hat weder mit dem bayerischen Vorgehen ein Problem, noch hält sie Afghanistan für unsicher. nd/Agenturen
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