Sophie Gutermann, geboren 1730, Tochter eines protestantischen Augsburger Arztes, war ein frühreifes Kind. Mit drei Jahren kannte sie das Alphabet, mit fünf, behauptete sie später, habe sie schon in der Bibel gelesen, mit zwölf assistierte sie dem Vater in der Bibliothek. Als sie achtzehn war, geriet sie in den Bann eines feurigen Mediziners aus Bologna, es war Liebe auf den ersten Blick, sie lernte flugs italienisch und verlobte sich. Aus der Heirat wurde aber nichts, weil man sich mit der katholischen Familie des Bräutigams nicht über den Glauben der späteren Kinder einigen konnte. Etwas später, in Biberach an der Riss, war es ihr Vetter Christoph Martin Wieland, der sie mit seiner Schwärmerei für die Poesie entzückte. Er schickte ihr Oden und Briefe voller Gefühl, er war schüchtern und klug und erklärte ihr die Welt. Das ging eine Weile gut, doch schließlich meinte sie, eine Entlobung sei doch die bessere Lösung. Bald darauf heiratete Sophie den Hofrat La Roche, einen wackeren, zuverlässigen Mann. Von Liebe konnte keine Rede sein, aber so war sie nach den erotischen Wirrnissen wenigstens in ruhiges Fahrwasser gelangt.
Als sie Mitte dreißig war und schrecklich einsam, die beiden älteren Mädchen, an denen sie hing, zur Erziehung im Kloster, La Roche nun Amtmann im schwäbischen Bönnigheim, fasste sie den Plan, einen Roman zu schreiben, ein Buch nur für sich. Aber da sie die Sache doch nicht ganz für sich behalten konnte, schickte sie die fertigen Teile dem alten Freund Wieland, der gleich in Jubel ausbrach und sie drängte, das Werk unter die Leser zu bringen. Sie hatte nichts dagegen, und so erschien die »Geschichte des Fräulein von Sternheim« 1771 in Leipzig, anonym natürlich, denn bis weit ins 19. Jahrhundert waren Frauen als Romanautoren unvorstellbar. Das Buch, als dessen Herausgeber Wieland fungierte, wurde ein Riesenerfolg. Natürlich kam schnell heraus, wer hinter dieser Geschichte steckte. »Die Erscheinung einer Dame auf dem Parnaß (die so viele andre Sachen zu tun hat)«, erklärte Jakob Michael Reinhold Lenz voller Bewunderung, »mußte jedermann aufmerksam machen.«
Sophie von La Roche hatte den Nerv der Zeit getroffen. Ihr Roman enthielt alles, wonach sich die Leserschaft sehnte. Er hatte eine tugendhafte, idealisierte Heldin, die an das Gute im Menschen glaubt und nicht zufällig auch Sophie heißt, einen bösen Lord, der sie unbedingt zu seiner Mätresse machen will, entführt und in den Kerker wirft, einen edlen Lord, der ein weites Herz hat und großmütig verzichtet. Am Ende, wen wundert's, ist das Böse besiegt, Sophie aus den Fängen des Übeltäters befreit und nun, an der Seite des edlen Lords, auf dem besten Weg ins Glück. Es wird viel geschluchzt und geweint in diesem Buch und beinah noch öfter der Finger erhoben, denn das Publikum, das weibliche vor allem, sollte ja lernen, gut zu sein, nach Sittlichkeit, Bildung und Vollkommenheit zu streben. Sophie von Sternheim lebt vor, wie man sich als Frau behauptet und auf ein eigenes Gefühlsleben dringt, die Vernunftheirat ablehnt und selbstbewusst auf Zuneigung setzt. Sie verteidigt die Tugenden eines sich allmählich emanzipierenden Bürgertums gegen die Anmaßungen des Adels. Die Botschaft ist damals gleich verstanden worden, und so wurde der Roman das größte literarische Ereignis vor Goethes »Werther«, der nur drei Jahre später erschien und den nächsten Begeisterungssturm auslöste.
Sophie von La Roche hat danach, ermutigt durch den enormen Erfolg, Buch um Buch veröffentlicht, Erzählungen, Romane, Reiseberichte. Geblieben ist nur die »Geschichte des Fräulein von Sternheim«, der erste bedeutende Roman, den eine Frau in Deutschland schrieb. Er ist gerade, zum 200. Todestag der La Roche, im Deutschen Taschenbuch Verlag wieder herausgekommen, Schöpfung eines Wesens, das aus weiter Ferne zu uns spricht. Erfreulich deshalb, dass Armin Strohmeyr jetzt in einer leicht lesbaren, temperamentvollen Biografie, erschienen bei Reclam Leipzig, ihre Geschichte erzählt hat, nach langer Zeit endlich eine Gelegenheit, sich ein Bild von dieser Autorin zu verschaffen. Zuletzt sieht man die Greisin mit ihrer Enkelin Sophie in Oßmannstedt beim alten Wieland, der ihre penetrante Sentimentalität kaum noch erträgt, aber sehr wohl weiß, dass er durch sie Dichter wurde. Goethe, der ihr später in »Dichtung und Wahrheit« ein Denkmal setzt, kommt vorbei, lächelt und nennt sie eine »wunderbare Erscheinung«. Aber schon die beiden Enkel Bettine und Clemens Brentano, Kinder der Lieblingstochter Maximiliane, wissen von der literarischen Bedeutung der Sophie von La Roche nur noch wenig.
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