EU geht auch anders: Städte der Zuflucht
Eine Konferenz in Gdansk sucht nach eigenen, solidarischen Wegen in der Flüchtlingspolitik: von unten, von den Kommunen her
Kann man die EU auch »von unten erneuern«, sozusagen von den »solidarischen Städten« her? In Sachen Flüchtlingspolitik unternehmen Bürgermeister und Wissenschaftler nun genau diesen Versuch: Im polnischen Gdansk findet an diesem Mittwoch die Konferenz »Relaunching Europe Bottom-Up« statt - es geht um Netzwerkarbeit zwischen Kommunen und Regionen, die die Aufnahme von Geflüchteten selbst in die Hand nehmen wollen, weil die EU in dieser Frage scheitert bzw. nationalstaatliche Regierungen eine gemeinsame Aufnahmepolitik verweigern. Es geht in Gdanks also um nichts Geringeres als die Frage, wie dort, wo kommunal die Bereitschaft zu einer solidarischen Politik besteht, auch am jeweiligen Staat vorbei agiert werden kann - in direkter Kooperation mit der Europäischen Union.
Von Barcelona bis Malmö, von Slupsk bis Osnabrück
Es gibt dafür einige Beispiele. Malmö und Barcelona etwa haben mehr Geflüchtete aufgenommen, als die jeweiligen Regierungen den Städten zugewiesen haben. Auch in Polen sind keineswegs alle Kommunen auf dem rechtsnationalistischen Kurs der Zentralregierung. Die Sozialdemokratin und Polen-Kennerin Gesine Schwan, die man als die Ideengeberin für die Selbstermächtigung der solidarischen Städte bezeichnen kann, verweist dabei nicht nur auf Metropolen wie Wrocław, sondern auch auf kleinere Kommunen wie Slupsk an der Ostsee.
Die Idee, die Schwan auf dem Höhepunkt der europäischen Krise im Umgang mit Flüchtlingen in die Öffentlichkeit brachte, ist eigentlich simpel: EU-Staaten zahlen in einen Fonds ein, aus dem Städte Geld beziehen können. Die Kommunen müssen sich für diese Mittel bewerben, die Förderung soll Kosten ausgleichen etwa für Unterkunft und Verpflegung. Voraussetzung ist allerdings auch, dass überzeugende Pläne für die Integration der Menschen vorliegen - die können je nach örtlichen Bedingungen freilich ganz unterschiedlich sein.
Natürlich geht es dabei auch um wirtschaftliche Interessen, um nötige Arbeitskräfte, um Investitionen, um die Nutzung leerstehende Gebäude und so fort. Aber es wäre ein Anfang, die so genannte Flüchtlingsfrage, die vor allem eine Frage der Solidarität in Europa ist, umzudrehen: »Die EU sollte das Geld nicht den Rüstungskonzernen, sondern seinen Kommunen geben«, so Schwan.
Bei der Konferenz in Gdansk soll es nun nicht nur um »eine neue ganzheitliche und direkte Finanzierungsstrategie der europäischen Gemeinschaften« direkt durch die EU gehen, man will die Möglichkeiten solidarischer Politik gegen oder trotz staatlicher Blockaden auch bekannter machen. Ziel sei eine Integrationspolitik, »die sich auf eine gemeinsame Entwicklungsstrategie auf kommunaler Ebene konzentriert«, so die Governance Plattform der Humboldt-Viadrina, eine gemeinnützige Gesellschaft, an der auch Schwan beteiligt ist.
Beteiligung der Zivilgesellschaft, Vermeidung von Zentralisierung und Renationalisierung, Erneuerung der EU von unten her - das sind die Grundgedanken des Projekts. Man wolle »eine starke Botschaft an die EU senden«, ein Zeichen, dass die so genannte Flüchtlingskrise nicht vom Himmel fällt, sondern politisch verursacht ist - aber eben auch nicht alternativlos bleiben muss: Eine »integrative europäische Wachstums- und Entwicklungsinitiative« ist das Ziel des Bürgermeistertreffens.
Lange Tradition: Ethik der Gastfreundschaft
Die Initiative von Schwan steht nicht allein. Helene Heuser von der Refugee Law Clinic Hamburg an der Universität Hamburg kennt noch andere Beispiele, bei denen Kommunen eine direkte Aufnahme von Geflüchteten selbst einfordern. »Städte der Zuflucht« nennt Heuser sie, und verweist darauf, dass gerade die lokale Ebene »seit jeher weltweit ein Ort der Migration und Flüchtlingsaufnahme« ist.
Ein Beispiel ist der Osnabrücker Stadtrat, der im Juni 2016 einen Antrag stellte, fünfzig Flüchtlinge aus Griechenland nach Osnabrück zu bringen - weil die sogenannte Verteilung der Flüchtlinge auf EU-Ebene aufgrund der Blockaden von nationalen Regierungen überhaupt nicht funktionierte. Ähnliche Initiativen habe es auch in Darmstadt, Hamburg, Mainz, Marburg, Münster, Mannheim, Potsdam, Wendland und Wolfsburg gegeben.
Heuse sieht auch eine längere Tradition der »Städte der Zuflucht«. Diese reiche bis zu den freien Städten im Mittelalter zurück, sogar bis zu den Asylstädten der Bibel und zur antiken Polis, die Verfolgten innerhalb der Stadtmauern Zuflucht gewährten. Der Philosoph Jacques Derrida sieht in der Flüchtlingsaufnahme in der Stadt sogar einen Motor für eine »Ethik der Gastfreundschaft, die liberalisierend auf das Migrationsrecht einwirkt«, so Heuser. Auf kleiner Ebene gab es zudem schon Netzwerke wie den von Derrida initiierten Kongress der Zufluchtstädte und das International Cities of Refuge Network - diese Kommunen nehmen bedrohte Schriftsteller und Journalisten auf.
»Ein umfassendes Netzwerk von Kommunen oder Städten der Zuflucht«, sagt Heuser, in dem »zusätzlich oder alternativ zu Aufnahmeentscheidungen des Nationalstaates« praktische Aufnahme-Solidarität geübt wird, »wurde hingegen bisher nicht gegründet.« Das könnte sich mit der Konferenz »Relaunching Europe Bottom-Up« ändern. Jedenfalls könnte ein erster Schritt getan werden.
So realpolitisch wie radikal
Das Projekt von Schwan übersieht dabei tieferliegende Probleme nicht. Natürlich muss es um die Bekämpfung von Fluchtursachen gehen - doch das braucht viel mehr Zeit als die Menschen haben, die schon unterwegs sind. Gegen den vorherrschenden EU-Kurs hat sich Schwan mit einem drastischen Vergleich ausgesprochen - dieser laufe »auf eine reine Abschottung Europas hinaus, die der Mauer Donald Trumps gegen Mexiko in nichts nachsteht«.
Schwan geht noch weiter: Die politisch Verantwortlichen würden »auf Abschreckung« setzen, und mit der »Angst vor dem Ertrinken, dem Verdursten, dem Verhungern, der Tortur und Versklavung auf dem Weg nach Europa« Politik machen. »Aber sie nennen ihre Politik nicht beim Abschreckungsnamen«, so Schwan vor einiger Zeit in einem Gastbeitrag. »Die Diskrepanz zu den immerfort öffentlich zelebrierten europäischen Werten wäre zu offensichtlich.«
Schwans Alternative ist so realpolitisch wie letzen Endes radikal, weil sie die bisherige politische Nomenklatura der EU infrage stellt. Bisher könnten sich die nationalen Regierungen eine dezentrale Ansiedlung »nur autoritativ von oben angeordnet vorstellen«, so die Politikwissenschaftlerin. Doch das gelinge nicht einmal. Eine Alternative, die auf die durchaus bestehende freiwillige Bereitschaft von Kommunen setzt, mehr Flüchtlinge aufzunehmen, müsse deshalb viel stärker in die Debatte gebracht werden. Unter anderem bei der Konferenz in Gdansk.
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