Werbung

Glitzer gegen Glatze

Eine 60-Jährige Antifaschistin steht in Göttingen vor Gericht, weil sie einen Neonazi mit roten Sternchen bepudert haben soll

  • Reimar Paul
  • Lesedauer: 3 Min.

Jens Wilke bekam doppeltem Geleitschutz: Acht Gesinnungsfreunde begleiteten den Chef der rechtsextremen »Volksbewegung Niedersachsen« am Mittwochvormittag vom Göttinger Bahnhof zum örtlichen Amtsgericht. Bis vor Kurzem war Wilke noch bekannt und berüchtigt als »Freundeskreis Thüringen/Niedersachsen«. Vor dem Gebäude sorgten gut gerüstete Polizistinnen und Polizisten dafür, dass Wilke und seine Truppe nicht mit linken Gegendemonstranten aneinandergerieten.

Wilke war in einem Verfahren gegen eine Göttinger Antifaschistin als Zeuge geladen. Gewissermaßen in eigener Sache: Denn die 60-Jährige soll ihm im Juli vergangenen Jahres im Göttinger Kreishaus rote Glitzersterne über den Kopf gekippt bzw. ihn damit beworfen haben. Ein Foto seines bepuderten Kopfes hatte Wilke ins Internet gestellt.

Der Rechtsextremist hatte zur Kommunalwahl im September 2016 auf der Liste der NPD als »Unabhängiger« für das Amt des Landrates kandidiert. Am fraglichen Tag tagte der Kreiswahlausschuss, um die eingereichten Vorschläge zu prüfen. Eine Gruppe Nazigegner begrüßte Wilke im Kreishaus mit Pfiffen.

Wilke will bei der Glitzerattacke auch einen Schlag auf den Kopf verspürt haben. Er zeigte seine Widersacherin an, Polizei und Staatsanwaltschaft ermittelten wegen des Verdachtes der Körperverletzung. Gestern nun verhandelte das Amtsgericht über die Sache.

In dem bis zum Nachmittag nicht beendeten Prozess muss sich die Frau auch noch gegen andere Vorwürfe verteidigen. So hatte sie im April 2014 gemeinsam mit etwa 60 anderen Aktivist/inn/en die Abschiebung eines Somaliers verhindert. Die Demonstranten hatten den Eingang und den Flur eines Hauses in der Göttinger Weststadt blockiert, in dem der Flüchtling lebte. Beim Versuch, die Blockade zu brechen, habe die wegen ruppiger Einsätze ohnehin in der Kritik stehende Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) der Göttinger Bereitschaftspolizei die Situation eskalieren lassen, berichteten Augenzeugen. Mehr als ein Dutzend Menschen seien durch Faustschläge, Schmerzgriffe, Hundebisse und den Einsatz von Pfefferspray im geschlossenen Treppenhaus verletzt worden.

Die Polizei bewertete die Ereignisse anders: Einige Blockierer hätten sich der Räumung massiv widersetzt, die Beamten hätten daraufhin Pfefferspray eingesetzt. Vier Polizisten seien bei dem Einsatz verletzt worden. Zwei Frauen und ein Mann, darunter die heute 60-Jährige, wurden angeklagt, sich der Räumung der Blockade widersetzt, Beamte in die Hand gebissen und in einem Fall auch geschlagen zu haben.

Die 60-Jährige hat der Staatsanwaltschaft zufolge zudem mehrere Sachbeschädigungen begangen: Sie soll etwa den Schriftzug »Göttingen Welcomes Refugees« auf eine Straße und eine Plastikplane gemalt und ein Bundeswehr-Werbeplakat mit der Parole »Kein Werben fürs Sterben« versehen haben.

Rund 80 Strafverfahren gegen Nazigegner hat die Polizei 2016 in Südniedersachsen eingeleitet. In rund der Hälfte der Fälle kam es nicht zum Prozess, die Übrigen endeten mit Einstellungen oder Freisprüchen. Jusos und Grüne Jugend ziehen daraus den Schluss, dass Antifaschist/inn/en oft ohne hinreichenden Grund kriminalisiert werden. Auch befürchten die beiden Organisationen, dass ihre Mitglieder widerrechtlich überwacht werden. Rund 200 von ihnen haben deshalb jetzt Auskunftsersuchen an den niedersächsischen Verfassungsschutz und das Landeskriminalamt gestellt.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.

- Anzeige -
- Anzeige -