Theresa May verliert ihre Poker-Wahl
Britischer Urnengang stutzt die konservative Premierministerin und stärkt Labour-Chef Jeremy Corbyn
Die Konservativen von Premierministerin Theresa May gehen aus der um drei Jahre vorgezogenen Parlamentswahl in Britannien am Donnerstag mit zwei blauen Augen hervor. Zwar wurden sie wieder stärkste Partei, doch verloren sie ihre absolute Mehrheit im Unterhaus, das 650 Sitze zählt. Der Pyrrhussieg bedeutet eine Stärkung für Jeremy Corbyns Labour Party, die zahlreiche Mandate hinzugewann und die Premierministerin zum Rückzug aufforderte.
Der Ausgang ist vor allem ein Desaster für die bisher alleinregierenden Tories, allen voran die Regierungschefin. May hatte die Blitzwahl vor acht Wochen anberaumt. Ihr Kalkül, die Tory-Mehrheit auszubauen und sich eine stärkere Verhandlungsposition für die Brexit-Verhandlungen zu Britanniens EU-Ausstieg zu verschaffen, die in zehn Tagen aufgenommen werden sollen, endete katastrophal. Ihre Zukunft als Premier und Parteiführerin ist offen. Zutreffend waren die Prognosen von Politikwissenschaftler Steven Fielding, Universität Nottingham: »May wird die Wahl gewinnen und anschließend wegen der Wahl geschwächt sein. Corbyn verliert die Wahl, steht aber danach stärker da.« Letzteres gilt für Labours Position im Land, aber ebenso für das Ansehen des Spitzenkandidaten in der Partei: Jeremy Corbyn, von der Mehrheit der Labour-Parlamentarier lange verspottet, verachtet und bekämpft, erhielt seinen Ritterschlag.
Stand Freitag, 08:30 Uhr, können Mays Konservative 314 Sitze (Wahl 2015: 331) erwarten. Auf die Labour Party entfallen 261 (232) Sitze, auf die Liberaldemokraten 12 (8), die Grünen wie bisher 1 und die fremdenfeindliche UKIP, vor zwei Jahren nach Stimmen drittstärkste Partei, null (1). Die in ihren Regionen wählbare Scottish National Party (SNP) bekommt 35 (56), Plaid Cymru in Wales 4 (3), die konservative, London treue Democratic Unionist Party (DUP) in Nordirland 10 (8) Sitze. Mit dem Verlust der absoluten Mehrheit für die Konservativen zeichnet sich eine Koalitionsregierung ab. Die Liberaldemokraten, zwischen 2010 und 2015 Koalitionspartner der Tories, schlossen ein neuerliches Bündnis bereits aus, die nordirische DUP gibt sich offen.
In mehrfacher Hinsicht fiel die Wahl aus dem Rahmen: Theresa May bestritt sie ohne eigenes Mandat als Regierungschefin aus einer Parlamentswahl. Die frühere Innenministerin war vorigen Sommer Nachfolgerin von Tory-Premier David Cameron geworden, nachdem dieser im Gefolge des EU-Referendums vom 23. Juni, in dem rund 52 Prozent für den Brexit stimmten, zurückgetreten war. Die Wahl war die erste allgemeine Wahl nach dem Brexit-Votum. Es war eine Abstimmung, in deren Vorfeld drei islamistische Terroranschläge – zwei in London, einer in Manchester – insgesamt 35 Menschen töteten.
May, die sich als neue Eiserne Lady und kompetenteste Kraft für die unvorhersehbaren Brexit-Verhandlungen präsentieren wollte, geriet mit einer blutleeren, arroganten und sozial kalten Kampagne täglich mehr in Bedrängnis. Ihr Wahlkampf offenbarte viele Schwächen – Kontrollzwang und Spontaneitätsverlust, Bürger- und Mitgefühlsferne. Symptomatisch die Episode bei einem Wählertreff im BBC-Fernsehen: Eine Krankenschwester gab, englisch höflich, der Premierministerin zu bedenken, wie hart es sei, in ihrem Pflegeberuf in acht Jahren keine einzige Gehaltsaufbesserung zu erhalten. Darauf »Eiskönigin« Theresa: Es gebe nun mal »no magic money tree« – Geld wachse halt nicht auf den Bäumen.
Im Gegenzug schob sich der als schwach geltende linke Labour-Führer mit beherzten, volksnahen Auftritten in der Wählergunst nach vorn. Corbyn, zuletzt selbst mit Churchill verglichen, trat locker auf, als habe er nichts zu verlieren. Viel Anklang fand er vor allem bei jungen Wählern mit seinen Forderungen, der sich vertiefenden Spaltung des Landes in Arm und Reich entgegenzuwirken. Bejubelt wurden sein Drängen auf ein »faireres Britannien«, namentlich in Gesundheit und Bildung, geteilt sein Vorwurf an Mays Adresse, deren Ruf nach stärkerer Terrorismusbekämpfung passe nicht mit ihrem Entscheid als Innenministerin zusammen, fast 20.000 Polizisten zu entlassen.
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