Wer früher stirbt, war länger arm
Soziale Spaltung verhindert eine steigende Lebenserwartung für alle
Seit dem Jahr 1900 ist die durchschnittliche Lebenszeit pro Jahrzehnt weltweit um etwa dreieinhalb Jahre angestiegen. Aber der scheinbar stetige Aufwärtstrend wurde auch immer wieder unterbrochen, so in den 1990er Jahren durch die HIV/Aids-Epidemie in Afrika und Asien.
Dem langfristigen Anstieg lag zunächst ein Rückgang der Kindersterblichkeit zugrunde, der in Europa vor allem durch bessere Hygiene, sauberes Trinkwasser und bessere Ernährung erreicht wurde. Bis ins 19. Jahrhundert war auch hierzulande noch jedes dritte Kind im ersten Lebensjahr gestorben. Später kamen Antibiotika und Impfungen als weitere Lebensretter hinzu. Gerade in Ländern mit niedrigem Einkommen herrscht in dieser Beziehung weiter Rückständigkeit - mit Auswirkungen auf die Lebenserwartung. Dort sind die Spitzenreiter bei den Todesursachen Lungenentzündungen und andere Infektionen der unteren Atemwege sowie Durchfallerkrankungen. Die wichtigsten Todesursachen weltweit waren 2015 dagegen ischämische Herzerkrankungen und Schlaganfälle.
Während die Kindersterblichkeit in Industrieländern wie Schweden in den letzten Jahrzehnten gegen Null geht, gewinnen gleichzeitig die Älteren an Lebenszeit hinzu. Jedoch geht es auch hier nicht immer linear weiter nach oben. Ein mögliches Alter von 150 Jahren wird zwar schon diskutiert, aktuell scheint sich bei einigen Jahren über 100 jedoch ein Plateau herauszubilden. Hier gibt es wohl eine biologische Grenze, die nur in extremen Ausnahmefällen überschritten wird.
Weitere Bremsen für den Lebenszeitgewinn sind steigende Kosten - vor allem für das Gesundheitswesen. Ein hoher Anteil dieser Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist allerdings noch keine Erfolgsgarantie. Japan gibt 10,2 Prozent des BIP dafür aus, die Frauen dort erreichen im Mittel ein Alter von 87 Jahren und sind damit weltweit Spitze. Die USA leisten sich das teuerste Gesundheitswesen der Welt, für das sie 17,1 Prozent des BIP ausgeben, haben aber durchaus nicht die höchste Lebenserwartung, in einigen Regionen nimmt sie sogar nicht mehr zu.
Ein dritter Bremsfaktor für den Zugewinn an Lebensalter ist weltweit die soziale Spaltung. So klafft selbst in den wohlhabenden alten Bundesländern eine Lücke von rund acht Jahren bei der männlichen Lebenserwartung zwischen der einstigen Schuhmachermetropole Pirmasens in Rheinland-Pfalz und dem bayerischen Landkreis Starnberg. In den USA liegt der Unterschied zwischen den Counties (Bezirken) schon bei bis zu 20 Jahren. Eine Erklärung für dieses Phänomen lautet: Je niedriger der sozioökonomische Status, desto höher wird die Stressbelastung subjektiv erlebt. Das wiederum fördert körperliche Erkrankungen und psychische Störungen. In den betroffenen Gruppen sind Bewegungsmangel, Übergewicht und Rauchen überproportional häufig. Die Schere wird in den Industriestaaten durch Bildungsunterschiede noch weiter geöffnet, wie Sabine Sütterlin vom Berlin-In- stitut für Bevölkerung und Entwicklung erläutert. Gesundheitliche Aufklärung erreicht heute eher Bessergestellte, sichtbar zum Beispiel an deren geringerem Raucheranteil. Noch in den 1950er Jahren galt Rauchen auch bei ihnen als »schick«.
Wichtiger als ein hohes Alter ist vielen Menschen, dieses möglichst lange gesund zu erleben. Unter den Einflussfaktoren setzt das Berlin-Institut Chancengleichheit an die erste Stelle. Prävention, Ernährung und Rauchen folgen. Bei den beiden letzten Punkten sieht das Institut die Politik in der Pflicht, etwa mit einer »Zuckersteuer« auf Limonaden oder dem Verbot der Außenwerbung für Zigaretten. In der Bundesrepublik ist öffentliche Reklame für Tabakprodukte weiter erlaubt - als einzigem EU-Mitgliedsland.
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