»Wir wollen uns lebend!«

Die argentinische Frauenbewegung »Ni Una Menos« gilt vielen in Lateinamerika als beispielhaft

  • Lesedauer: 4 Min.

Woher kommt das Motto »Ni Una Menos«?
Eine mexikanische Poetin hat diesen Ausdruck geschaffen angesichts der zunehmenden Morde in Mexiko an Mädchen und Frauen, den sogenannten Femicidios. Als im Juni 2015 ein 14-jähriges Mädchen in Argentinien ermordet wurde, gab es eine spontane massive Mobilisierung. Die Medien sprechen seitdem von den Femicidios und nicht mehr von Mord aus Eifersucht oder Ähnlichem.

Was folgte dann?
Seither haben bestehende Organisationen und neue Gruppen weitergearbeitet. Das Motto hat offenbar eine kollektive Empfindung getroffen. Die Mobilisierung der Massen hat sich immer stärker ausgeweitet. Gleichzeitig gab es immer mehr Morde an Frauen. 2017 nimmt das noch mal zu. In Argentinien wird schätzungsweise eine Frau pro Tag ermordet. Ausgehend von einer Demonstration in Mexiko Anfang 2016 entstand das Motto »Wir wollen/mögen uns lebend« (Vivas nos queremos). Das ist eine positive Forderung, die viele anzieht. Damit wird die vorherrschende Perspektive kritisiert, dass die Frauen an der Gewalt selbst Schuld sind und als Opfer gesehen werden. Vielmehr werden sie zu Subjekten. Es ist keine Bewegung von Opfern von Gewalttaten, die auf Entschädigung drängen.

Verónica Gago

Vor einer Woche fand in Buenos Aires eine große Demonstration der Frauenbewegung unter dem Motto  »Ni Una Menos!« (»Nicht eine weniger!«) statt. Es handelt sich um eine der dynamischsten und breitesten sozialen Bewegungen. Sie nahm im Juni 2015 ihren Ausgang. Ulrich Brand von der Universität Wien, war auf Einladung der Rosa Luxemburg-Stiftung in der argentinischen Hauptstadt und sprach mit Verónica Gago, Mitglied des Organisationskollektivs von »Ni Una Menos!«.
Foto: privat

Am 19. Oktober 2016 wurde zum ersten Frauen-Streik aufgerufen.
Ja. Im Oktober gab es das Nationale Frauentreffen in Argentinien, das seit 33 Jahren stattfindet. Vergangenes Jahr kamen 600.000 Frauen nach Rosario, und wir hatten buchstäblich das Gefühl, eine Stadt für unsere Anliegen einzunehmen. Als wir dort waren, wurde eine Frau auf brutale Weise in Mar del Plata ermordet, und wir hatten den Eindruck, dass diese Tat dazu beitragen sollte, die Bewegung zu disziplinieren. Deshalb haben wir innerhalb einer Woche den Frauenstreik organisiert, und der fand dann in 15 lateinamerikanischen Ländern statt. Das war ein qualitativer Sprung. Es wurde deutlich: Frauen sind nicht die Opfer, sondern wir sind in der Lage, gesellschaftliche Abläufe anzuhalten. Wir haben nicht nur Gewalt, sondern auch Arbeit zum Thema gemacht. Anhalten bedeutete, die aktuelle Fragmentierung der Gesellschaft aus feministischer Perspektive zu thematisieren.

Welche Bedeutung hatte es, dass es der erste Streik gegen die Regierung des neoliberalen Präsidenten Mauricio Macri war, die seit Dezember 2015 im Amt ist?
Das wurde durchaus registriert. Wir sagten: »Während die Gewerkschaften Tee mit Macri trinken, sind wir auf der Straße.« Wie Rosa Luxemburg sagte: Der Streik ist keine Technik, sondern eine Frage: Was bedeutet es, zu streiken, zu unterbrechen in der Situation, in der sich die sozialen Verhältnisse verschlechtern? Damit wurde das Thema der Arbeit zentral.

Auch beim internationalen Streik am 8. März 2017?
Ja. Für den 8. März wurde in fünf großen Versammlungen ein Manifest erarbeitet, das dann verlesen wurde. Es thematisiert Arbeit, sexuelle Vielfalt, die Verantwortung des Staates für die Gewalt, Abtreibung und Gesundheit, die Erde als Körper, der vom Ressourcen-Extraktivismus angegriffen wird, die Verbindungen mit anderen Ländern, ein Wiedererstarken des Feminismus und anderes. Der Feminismus ist nicht mehr nur vor allem liberal und akademisch, sondern eben auch kommunitär, indigen, volksnah. Vorher hat Feminismus in den Armenvierteln nichts bedeutet. In den Aufständen um 2001 in Argentinien wurde ihm eher mit Vorurteilen begegnet.

Steht die Zunahme der Femicidios auch mit dem Kirchnerismus, also den progressiven Regierungen von 2003 bis 2015, im Zusammenhang?
Durchaus. Der Kirchnerismus hat vor allem in den Armenvierteln dazu beigetragen, den sozialen Zusammenhalt zu schwächen. Die informelle Ökonomie hat zugenommen, damit entstehen andere Machtverhältnisse, neue Konflikte und vermehrt Gewalt, vor allem gegen Frauen. Die staatlichen Hilfeleistungen haben nie ausgereicht, vor allem in den vergangenen fünf Jahren, also mussten die Leute sich anders reproduzieren. Neben der informellen Ökonomie ist es auch die Finanzialisierung - die Menschen haben sich über private Schulden finanziert, was eine starke Individualisierung schafft. Dazu gab es die starke Orientierung, dass Integration in die Gesellschaft über Konsum läuft und der ist eben sehr individuell oder auf Familienebene und zerstörte vorher bestehende soziale Strukturen.

Welche Rolle spielen bei den aktuellen Mobilisierungen die berühmten Madres de Plaza de Mayo (Mütter des Platzes der Mairevolution)?
Das ist interessant, denn sie sehen sich in den aktuellen Auseinandersetzungen auch als Feministinnen. Damit wird noch deutlicher: In Argentinien ist der Kampf um Rechte nicht einer des liberalen Feminismus, sondern er kommt aus viel breiteren sozialen Kämpfen. Dafür standen ja historisch die Madres - gegen Neoliberalismus, die Kämpfe der Jüngeren in den Armenvierteln und anderes. Das wird nun mit dem Feminismus verbunden. Die Madres haben an zentraler Stelle bei der Demo am 8. März gesprochen.

Wie geht es weiter?
Organisatorisch wird es im Oktober in der Provinz Chaco ein weiteres Treffen geben. Inhaltlich wird immer deutlicher: Die Gewalt gegen Frauen ist Teil einer neuen kolonialen Offensive. In Honduras oder Guatemala sprechen die AktivistInnen von »territorialen Körpern« in dem Sinne, dass etwa die Ermordung von SprecherInnen der Widerstandsbewegungen, oft Frauen, gegen die extraktivistischen Projekte der transnationalen Konzerne in diesem kolonialen Zusammenhang gesehen werden muss.

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