Ungleichheit erzeugt Gewalt
Studien aus Lateinamerika zeigen Einfluss der zunehmenden sozialen Spaltung unter anderem auf die Mordrate
Zwei aktuellen Studien zufolge führt der lateinamerikanische Kontinent weiter das Ranking mit den weltweit gefährlichsten Städten an, in denen kein Krieg herrscht. Laut dem jährlichen Bericht des Bürgerrates für öffentliche Sicherheit und Strafvollzugsgerechtigkeit aus Mexiko finden sich 43 der 50 Städte mit der höchsten Mordrate zwischen Rio Grande und Feuerland, berichtet die Tageszeitung »El País« zuletzt in ihrer Onlineausgabe über die systematische Auswertung amtlicher Mordstatistiken. So seien in Mexiko im Drogenkrieg mehr Menschen auf gewaltsamem Weg ums Leben gekommen als in den Kriegsgebieten Afghanistan und Irak. In ganz Lateinamerika sind 2016 über 144 000 Menschen ermordet worden.
Das brasilianische Forschungsinstitut Igarapé bestätigt dieses traurige Bild: Obwohl in Lateinamerika und der Karibik nur acht Prozent der Weltbevölkerung lebten, wird in der Region dennoch jeder dritte Mord verübt. Von den 20 Ländern mit den höchsten Mordraten seien 14 lateinamerikanische Staaten, rechnet Igarapé vor. Als Gründe für die zuletzt wieder gestiegene Gewalt nennt Forschungsleiter Robert Muggah die wachsende Schere zwischen arm und reich. Ein Anstieg der Wachstumsraten bedeute nicht - wie früher angenommen - weniger Gewaltkriminalität, mahnt Igarapé ein Schließen der sozialen Kluft an. In Argentinien und Uruguay, wo die Ungleichheit am niedrigsten ist, sind demnach auch die Mordraten am geringsten.
Ohne eine Verteilung des Reichtums würden bestehende Konflikte durch eine Polarisierung der Gesellschaft weiter angeheizt und an Fahrt gewinnen. Die Städte Lateinamerikas seien »die ungleichsten des Planten«, machen die Wissenschaftler einen der wichtigsten Treiber für den Gewaltexzess aus. Würde die Minderheit nationaler Eliten in Wirtschaft und Politik immer reicher, habe der Großteil der Bevölkerungen kaum genug Ressourcen für den täglichen Bedarf.
Nach einem Rückgang der Ungleichheit in vielen Gesellschaften Lateinamerikas durch Sozialprogramme linksgerichteter Regierungen ab den 2000ern, etwa in Brasilien, Venezuela, Argentinien, Bolivien und Ecuador, und die Verteilung von Rohstoffrenten durch eine Abkehr von der neoliberalen Wirtschafts- und Steuerpolitik, bedeutet die Rückkehr der alten Eliten an die Macht und ein Ende des Rohstoffbooms auch eine Rückkehr von Armut und damit Gewalt. Die Folge sei ein gnadenloser Kampf um Nahrung, Trinkwasser, Strom oder den Anschluss an die Kanalisation sowie natürlich um Geld und Prestige, so die Forscher.
»Die Gewalt in Lateinamerika ist ein historisch verwurzeltes Phänomen«, schlagen die Politikwissenschaftler Miguel Angel Barrios und Noberto Emmerich einen weiten Bogen von den Bürgerkriegen nach der Unabhängigkeit der Ex-Kolonien von der Spanischen Krone, über die brutale Bekämpfung linker Bauernbewegungen in Kolumbien mit Hilfe der USA (Operation Marquetalia) und die rechten Militärregierungen im Kalten Krieg ab den 1980er Jahren bis zum »Anti-Drogenkrieg« in Mexiko und Kolumbien. Barrios und Emmerich:
»Die Gewalt in Lateinamerika ist Ausdruck einer Region mittlerer Entwicklungsstufe, wo sich mit Brasilien und Mexiko zwei aufstrebende Mächte befinden, mit einer Grenze zu den Vereinigten Staaten, voller Ungleichheiten und Kämpfe um die Aufteilung der Profite.« Fehlende Staatlichkeit und schwache Institutionen seien ebenfalls Gründe für »die lateinamerikanische Gewalt«, so die Wissenschaftler. Orte der Gewalt sind, kaum verwunderlich, die rasant wachsenden Städte. Doch konzentriert sich dort die Kriminalität auf engem Raum: Einer Studie der Interamerikanischen Entwicklungsbank zufolge passiert die Hälfte aller Straftaten in Lateinamerikas Metropolen in nur 1,6 Prozent der Straßen.
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