Debatte nach Anschlägen: »Schuss ins eigene Knie«
Kritik aus der linken Szene / G20-Bezug? Ermittlungen nach Kabelbränden bei der Bahn dauern an / Merkel: Gut, dass es Kritik am Gipfel gibt - aber friedlich
Berlin. Noch ist nicht endgültig klar, wer hinter den Brandanschlägen auf Kabelschächte der Bahn steckt. Die Kritik an den Attacken, die großflächig den Verkehr lahmlegten und Tausenden Pendlern zur Plage wurden, wird derweil immer lauter. Auch in der linken Szene. »Ein Schuss ins eigene Knie«, heißt es bei der linksradikalen Plattform »Lower Class Magazine«, die dort begründet, »warum Kabelbrände als militante Aktionen nicht erfolgreich sein können«.
Verweisen wird vor allem auf die erwartbare Wirkung solcher »militanter Aktionsformen«: Es sei schließlich »keineswegs so, dass es keine empirischen Erfahrungen zu den Auswirkungen dieser Aktionsform gab. 2013 gab‘s eine solche Geschichte in Berlin. Effekt: Hass gegen alles Linke. 2014 gab‘s dieselbe Aktion nochmal. Effekt: Hass gegen alles Linke. Und jetzt 2017 gibt‘s die Geschichte erneut. Was erwartete man?« Unter dem Strich reduziere sich mit solchen Aktionen »Militanz auf eine Art nihilistischer Masturbation. Man zündelt für‘s eigene Wohlbefinden, dem Gros der Gesellschaft, das man hasst und verabscheut, hat man nichts mehr mitzuteilen.«
Auf der Internetplattform »linksunten.indymedia.org« war am Montag ein mögliches Bekennerschreiben aufgetaucht. Ob es echt ist, steht aber noch dahin. Nach Einschätzung der sächsischen Polizei haben die Vorfälle, so schreibt es die Deutsche Presse-Agentur, »möglicherweise einen Bezug zum G20-Gipfel«. Zitiert wird auch aus Sicherheitskreisen, das mutmaßliche Bekennerschreiben passe ins »Raster«. Es sei aber noch unklar, ob es authentisch sei. Indymedia versteht sich als offene Plattform zur freien Verbreitung von Informationen. In der Vergangenheit waren dort auch Fälschungen von angeblichen Bekennerschreiben aufgetaucht.
Auch auf der Website selbst wird über die Brandanschläge debattiert. »Glaubt ihr, die Leute die heut Morgen an den Bahnhöfen standen werden sich mit euch oder euren Zielen solidarisieren? Die schieben einfach nur Frust und schenken den Bullen, die den Gipfel bewachen, im Zweifelsfall noch einen Kaffee aus«, schreibt da ein Leser. Ein anderer findet hingegen: »Du gehst doch den bürgerlichen Medien auf den Leim mit diesem Distanzierungsfuror.«
Die Anschläge seien »in Sachen Zielgruppe, Öffentlichkeitsarbeit und handfester Konsequenzen gründlich schiefgegangen«, heißt es bei der »Tageszeitung«. Und weiter: »Zu blöd, dass sie noch nicht mal innerhalb der eigenen Szene verfängt.« Auch das Blatt macht auf die erwartbare negative Wirkung aufmerksam, die die Brandanschläge in der Öffentlichkeit für die gesamte G20-kritische Linke haben. Zudem werde wohl kaum Donald Trump mit der Bahn zum Gipfel anreisen, die Aktionen treffen also die Falschen. »ArbeiterInnen und Angestellte, die am Montag nun müde, genervt und frustriert warten mussten. Und die sollen sich spontan mit dem Widerstand gegen den Kapitalismus oder auch nur mit dem gegen G 20 solidarisieren? Kaum.« Das mutmaßliche Bekennerschreiben zeuge »von grandioser Selbstüberschätzung«.
Wie man die Brandanschläge nutzen kann, um einen giftigen Brei gegen alle Linken zusammenzurühren, zeigt beispielhaft die »Frankfurter Allgemeine«: Sollte das eine Botschaft zum G20-Gipfel sein, heißt es dort, »so ist es die übliche: Gewalt. Denn um die Unterdrückten dieser Erde geht es den von Gipfel zu Gipfel ziehenden Krawalltouristen offenkundig nicht«. Beispiel Blockupy und Proteste gegen die EZB. Auch jenen, »die angeblich gegen die Europäischen Zentralbank demonstrierten«, sei es nicht um deren Politik gegangen – »sie wollten die Frankfurter Innenstadt verwüsten und Polizisten in ihren Fahrzeugen anzünden«.
Derweil hat Angela Merkel die Kritiker des Gipfels in Hamburg zu friedlichen Protesten aufgerufen. »Ich weiß, dass ein G20-Gipfel oder die politische Agenda eines solchen Gipfels auch Kritiker hat«, sagte sie am Montag. »Das ist aus demokratischer Sicht, das will ich ausdrücklich sagen, auch gut so.« Und sie ergänzte: »Aber, ich betone, es sollte auch friedliche Kritik sein.«
Das »Hamburger Abendblatt« nennt derweil die Aktionen an den Bahnstrecken »bundesweit gut koordiniert«. Dies offenbare »auch ein Problem der Sicherheitsbehörden«. Hätten sich diese bisher ihre Erfolglosigkeit bei den Ermittlungen damit erklärt, dass konspirative Kleinstgruppen hinter solchen Aktionen stecken, habe man nun »Anschläge hinnehmen müssen, die nur durch vorherige überregionale Planungen und Kontaktaufnahmen möglich waren. Hier wird deutlich, wie wenig Einblick Sicherheitsbehörden offenbar in die Szene haben«, so das Blatt. Es zitiert einen Beamten: »Aktuell haben wir keinen guten Einblick in die Szene. Man muss sich mehr auf die Auswertung von Internetbeiträgen und ähnlichen Ansätzen konzentrieren.« nd/Agenturen
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