Eine commonistische Ökonomie II
Debatte Linke und Digitalisierung: Über Privateigentum und Wertschöpfung, die Krise der Grenznutzentheorie und das Grundeinkommen
Im Kern geht es bei der Digitalisierung um eine Möglichkeit, Ökonomie und Gesellschaft politisch anders zu gestalten. Für Linke geht es dabei um die Überwindung des kapitalistischen Produktions- und Distributionssystems. Digitale Commons eröffnen den Blick auf eine zeitgemäße Transformationsstrategie und linke politische Ökonomie. Zweiter Teil des Beitrags von Ronald Blaschke. Den ersten Teil finde Sie hier.
Privateigentum und Wertschöpfung: Von John Locke der traditionellen Arbeiterbewegung zum Karl Marx der freien Communist*innen
Locke begründete privates Eigentum mit der Anwendung von Arbeit auf ein allen Menschen gemeinsames Gut, bei ihm die Natur. Weil jede*r ein Eigentum an seiner Person habe, ist die Arbeit, die die Person auf den Gegenstand, anwendet, Grund dafür, dass der bearbeitete Gegenstand sein privates Eigentum sei. Außerdem würde die Anwendung von Arbeit einem unbearbeiteten, allen gemeinsam gehörenden Gegenstand einen Wert (eine Verbesserung) hinzufügen, welchen er zu zuvor nicht hatte.
Diese Erzählung Lockes hat insofern Widerhall in der Arbeiterbewegung gefunden, dass sie sich gut gegen die arbeitslose, private Aneignung des bearbeiteten Gegenstandes durch Kapitalist*innen wenden ließ. Die Kehrseite dieser Medaille ist aber die Hybris von Teilen der Arbeiterbewegung, die auch vollkommen im Widerspruch zur digital-commonistischen Eigentumslosigkeit steht: Das von ihnen erarbeitete Produkt sei faktisch ihr Eigentum. Das Entgelt habe neben den Investitionsrücklagen, über deren Verwendung nur die Produzierenden bestimmen, die Wertschöpfung vollumfänglich abzubilden. Diese Hybris hat(te) Folgen: Abwertung, Diskriminierung und Verachtung der in ihren Augen nicht Arbeitenden – seien es freiwillig Erwerbslose oder Sorgearbeiter*innen im familialen bzw. nahem sozialen Umfeld. Wenn die Arbeitenden etwas von »ihrem« Eigentum und »ihrer« Wertschöpfung an diese »arbeitslosen« Gruppen abgeben sollten – zum Beispiel durch Steuern, dann könnte es nur generös genannt werden. Außerdem wäre der Ausschluss der »Nichtarbeitenden« aus der Bestimmung über die Produktion gerechtfertigt.
Karl Marx, der zwar der Arbeitswerttheorie der klassischen politischen Ökonomie insoweit folgte, dass lebendige Arbeit in einer Warengesellschaft einen Wert schafft (Gebrauchswert und Tauschwert), hat sich sowohl in seinen Früh- als auch späteren Schriften von der individualistisch-liberalen Sicht John Lockes abgegrenzt: Erstens, sieht sich der Arbeitende bereits einer von anderen bearbeiteten Welt gegenüber. Diese Welt ist vergegenständlichtes Wissen und Fähigkeit der Menschheit. Zweitens sind Werkzeuge, Maschinen, die er nutzt, ebenso vergegenständlichtes Menschheitserbe. Drittens ist selbst die eigentümliche Kraft des Arbeitenden individueller Ausdruck geschichtlich gewordener Bildung und Wissenschaft. Viertens ist lebendige Arbeit in der Regel kooperative oder kollaborative Arbeit.
Diese Einsicht des jungen Marx kommt auch in späteren Schriften vor dem Hintergrund sich entwickelnder kapitalistischer Produktion zum Tragen: Umso mehr die Produktion »verwissenschaftlicht« und von gebildeter lebendiger Arbeit organisiert wird, desto unmöglicher wird die Ableitung des Werts von der konkret aufgewendeten Arbeitszeit in der unmittelbaren Produktion: Der wirkliche Reichtum der Gesellschaft (Common Wealth) ist von einem sich jenseits des unmittelbaren Produktionsprozesses entwickelnden allgemeinen Wissenstandes und der Kooperation der lebendigen Arbeit abhängig: Marx spricht von dieser als »Kombination menschlicher Tätigkeiten« und von der »Entwicklung des menschlichen Verkehrs«.
Das sind zeitgenössische Metaphern für das, was wir heute Kooperation und Kollaboration nennen (die sich im Zeitalter der Digitalisierung zeitlich und räumlich enorm entgrenzen). Daraus folgt für Marx der »Zusammenbruch der auf Tauschwert beruhenden Produktion« – letztlich wird die auf Privateigentum basierende Produktion zur Fessel der Produktion und behindert die Entwicklung des gesellschaftlichen Reichtums. Eine weitere Tendenz, die den Zusammenbruch der auf Privateigentum und Tauschwert basierenden Produktion vorantreibt, ist die Zunahme des Anteils von digitalen Informationsgütern in der automatisierten, unmittelbaren Produktion von Gütern und Dienstleistungen. Mit dieser nehmen sowohl der Anteil der Wertübertragung von Maschinen und die Neuwertschöpfung durch lebendige Arbeit als auch der Anteil der verwertbaren lebendigen Arbeit in der unmittelbaren Produktion selbst ab. Privateigentum oder individuell begründete Wertschöpfungsanteile aus der unmittelbaren Produktion und daraus abgeleitete Distribution (Profit, Entlohnung usw.) sind dann mehr und mehr – und das erst recht in einer digitalisierten Produktion – Ausdruck politisch mächtiger Fiktionen.
Um Herrschaftsverhältnisse dennoch zu sichern, verlässt privateigentümliche Aneignung den begrenzten Raum der unmittelbaren Produktion: Globalisiertes Finanzkapital, Privatisierung natürlicher und geistiger Güter, Ökonomisierung sowie Finanzialisierung aller Lebensbereiche der Menschen, inkl. der Kreierung von Lebensstil und Lebensform, sind einige Auswege.
Umso mehr braucht die politische Ökonomie einer gesellschaftlichen Linken das Verständnis einer Ökonomie, die den bürgerlichen, in Teilen der traditionellen Arbeiterbewegung ebenfalls vorherrschenden Horizont des Privateigentums und der privateigentümlichen Wertschöpfung und damit verbundener Distribution abstreift. Sie muss darüber eine politische Ökonomie entwickeln, die das ganze Haus (oikos) als gemeinsames Haus, inkl. der Natur(re)produktion, der digitalen Commons und der (Re)Produktion des Menschen in der Produktion selbst und in der Sorgearbeit, versteht – und deren Ziel die freie Entwicklung aller Individuen ist.
Krise der Grenznutzentheorie
Die für manche Linke alleinig als wahre politökonomische Theorie geltende Grenznutzentheorie (vgl. zum Beispiel Fischbach) hat im Zeitalter der Digitalisierung ebenfalls Erklärungsnöte. Nicht nur, dass deren Grundannahme, der allgemeine Nutzen von Privateigentum für das Gemeinwohl, von Linken zurecht abgelehnt wird. Auch kommt die Theorie mit der möglichen unlimitierten Reproduzierbarkeit und Teilbar-/Entwickelbarkeit digitaler Informationsgüter und damit tendenziell gegen null gehender Grenzkosten und sinkender Fixkosten pro Stück Informationsgut in der Produktion nicht klar. Denn dies bedeutet letztlich, dass der Preis einer weiteren produzierten Einheit eines digitalen Informationsgutes tendenziell gegen null sinkt. Und nimmt der Anteil von digitalen Informationsgütern in der Produktion von Sachgütern und Dienstleistungen und in der Ausstattung dieser Sachgüter zu, sinken ebenfalls deren Grenzkosten und Preise.
Alles das bringt die traditionelle Erklärung von Preisbildung – analog arbeitswerttheoretischer Ableitungen – zunehmend mehr in Nöte. Die Theoretiker der Null-Grenzkosten-Tendenz (Mason, Rifkin) übersehen dabei keineswegs Entwicklungs- und Anpassungskosten, Kosten für Speicher- und Übertragungsmedien digitaler Informationsgüter, verweisen aber ebenfalls auf deren tendenziellen Kostenverfall. Erst recht gilt dies, wenn a) (Weiter)Entwicklungen digitaler Güter kostenfrei stattfinden (können) und b) die »sichtbare Hand« die Infrastruktur und Techniken zur Beförderung digitaler Commons immer effizienter und kostengünstiger bereitstellen kann als die unsichtbare, ineffiziente Hand des Marktes – eben auch mithilfe digitaler Informationsgüter. Grenznutzentheoretiker*innen, auch linke wie zum Beispiel Rainer Fischbach, müssen daher auf beständiges kapitalistisch-ökonomisches Wachstum und so reproduzierte Lohnverhältnisse setzen, um ihren theoretischen Ansatz (und die Grenzkosten) zu retten.
Kulturell-politische Gegenerzählung wider die Verschwendung
Kapitalistische Wachstums- und Verschwendungsökonomie kennt natürlich das Kraut, das gegen die Bedrohung von kapitalistischer Wertschöpfung und Kapitalakkumulation durch die digital-commonistische Produktion und die »sichtbare Hand« gewachsen ist: Es ist nicht nur die Limitierung und Privatisierung von Commons und Infrastruktur. Es ist auch die permanente »Alterung« und der gezielte »Verschleiß« von Gütern durch die konkurrenzgetriebene Schaffung neuer Bedürfnisse, neuer Märkte, neuer Produktionszweige, in denen die Produktionskosten (anfänglich) hoch sind. Das führt nicht nur zur »Landnahme« des Kapitals auf dem Terrain zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Bereiche (zum Beispiel des Gesundheitswesen), sondern auch zur katastrophalen Ver- und Übernutzung natürlicher Ressourcen.
Eine kulturell-politische Gegenerzählung gegen das Wachstums- und Verschleißparadigma ist: Es ist für alle genug da – die grundlegenden Bedürfnisse aller sind schon längst befriedigbar. Und: Es gibt massenhaft Orte und Zeiten, deren sich die Menschen bedienen könn(t)en, um ihre eigenen Fähigkeiten auszubilden und den gemeinsamen Reichtum zu mehren. Nur sind die Lebensräume und -zeiten der Menschen in eine ökonomische Maschine eingepresst, deren Funktion nicht Bedürfnisbefriedigung sondern letztlich politische Herrschaft ist.
Grund»einkommen«
Das Grund»einkommen« ist ein Mittel, welches weitgehend die Erpressungsfreiheit in allen gesellschaftlichen Systemen garantiert, indem es die Gewalt eliminiert, die durch Entzug der grundlegenden Existenz- und Teilhabemöglichkeiten möglich ist. Bei linken Theoretikern der Digitalisierung und Wissensgesellschaft taucht die Forderung nach einem Grundeinkommen regelmäßig im Zusammenhang mit der Beförderung kooperativer und kollaborativer Produktion und Konsumtion jenseits/quer zur Lohnarbeit und Unterordnung unter das Kapital auf (Gorz, Mason, Hardt/Negri, Wright). Es ist in ihren Augen ein Transformationsprojekt. Es ist derzeit sowohl aus der Abschöpfung von noch bestehender Wertschöpfung und von Monopolrendite durch das Kapital zu sichern und zu begründen.
Allerdings übersteigt es (genauso wie eine gebührenfreie bzw. geringe Nutzungsgebühren verlangende öffentliche Infrastruktur) schon den privatisierenden Charakter der Wertschöpfung: Grundeinkommen und genannte öffentliche Infrastruktur der »sichtbaren Hand« sind nichts weiter als allgemeine Mittel zur Aneignung des allen gehörigen, gemeinsamen Reichtums (Natur, Wissen, soziale Fähigkeiten). Mit dem »Zusammenbruch der Wertschöpfung« und der Überwindung der Monopole ist das Grund»einkommen« in eine andere Form des bedingungslosen Zugangs zu produktiven und konsumtiven Teilhabemöglichkeiten zu wandeln. Deshalb setzte ich die Anführungsstriche beim Grund»einkommen«.
Als Transformationsprojekt ist das Grundeinkommen – wie die Entwicklung digitaler Commons – mit dem jetzigen ökonomischen System in vielfacher Weise verbunden. Es weist aber gleichzeitig – wie die Produktion und Konsumtion von digitalen Commons auch –, über das bestehende ökonomische System hinaus, weil es – wiederum wie die frei zugänglichen Commons – eine grundsätzliche Voraussetzung einer freien, unerpressbaren Kooperation und Kollaboration (Spehr) und einer freien Entwicklung der Individualität ist. Das Grund»einkommen« ist also nicht nur ein Transformationsprojekt, sondern es ist auch Bestandteil der politischen Ökonomie einer commonistischen Ökonomie, die allen die freie Teilhabe am Gemeinsamen und bestmögliche Bedingungen für die freie individuelle Entwicklung garantieren will und kann.
Ronald Blaschke ist Philosoph und Pädagoge. Er hat 2004 das Netzwerk Grundeinkommen mitgegründet und engagiert sich auch in der Linkspartei sowie im Netzwerk Unconditional Basic Income Europe (UBIE) für diese Idee.
Literatur:
- Fischbach, Rainer (2017): Die schöne Utopie. Paul Mason, der Postkapitalismus und der Traum vom grenzenlosen Überfluss, Köln: PapyRossa.
- Gorz, André (2000): Arbeit zwischen Misere und Utopie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Hardt, Michael/Negri, Antonio (2010): Common Wealth. Das Ende des Eigentums, Frankfurt am Main/New York: Campus.
- Mason, Paul (2016): Postkapitalismus. Grundrisse einer kommenden Ökonomie, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
- Rifkin, Jeremy (2014): Die Null-Grenzkosten-Gesellschaft. Das Internet der Dinge, kollaboratives Gemeingut und der Rückzug des Kapitalismus, Frankfurt am Main/New York: Campus.
- Spehr, Christoph (2003), Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation, in: ders. (Hg.): Gleicher als andere. Eine Grundlegung der freien Kooperation, Texte der Rosa-Luxemburg-Stiftung, Band 9, S. 19-116.
- Wright, Erik Olin (2017): Reale Utopien. Wege aus dem Kapitalismus, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
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