Reine Nervensache
Martin Schulz weckt mit seinen Worten über die Kanzlerin empörte Reaktionen
Eines hat der ambitionierte Spitzenkandidat und Parteivorsitzende der SPD, Martin Schulz, mit seiner »Ich-reiße-das-Ruder-herum«-Rede auf dem Parteitag am Wochenende in Dortmund erreicht: Man redet über Schulz und über die SPD und über den Wahlkampf der SPD in einer Emotionalität, wie schon seit dem Umfragehoch im Frühjahr nicht. Schulz’ persönliche Attacken auf Angela Merkel bringen neben der Konkurrenz von der Union vor allem auch die Medien in Fahrt. Mit dem Vorwurf an die Bundeskanzlerin, sie verübe mit ihrer Wahlkampftaktik einen »Anschlag auf die Demokratie«, hat Schulz ganz offenkundig den Sprengstoff für ein kleines zwischenzeitliches Wahlkampffeuerwerk gezündet.
Die Union verweigere sich der Debatte um die Zukunft des Landes, hatte Schulz in Dortmund beklagt und spekuliert, sie vermeide inhaltliche Bekenntnisse in der Hoffnung, auf diese Weise die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl im September zu dämpfen. »Ich nenne das einen Anschlag auf die Demokratie«, hatte Schulz unter dem Beifall der Delegierten ausgerufen. In der SPD gilt es traditionell als ausgemacht, dass vor allem ihre potenziellen Wähler es sind, die sich zuerst der Teilnahme an Wahlen verweigern. Auch wenn sich dies in konkreten Wahlentscheidungen nicht so einfach belegen lässt. In allen drei Landtagswahlen dieses Jahres - Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen - hat die SPD gegenüber dem Votum von 2012 verloren, obwohl in allen drei Ländern die Wahlbeteiligung stieg.
Als starken Tobak empfindet naturgemäß die Partei der angegriffenen Bundeskanzlerin einen so weit ausholenden Vorwurf des SPD-Kandidaten. Dessen Wortwahl habe man bisher bei Terroristen genutzt, äußerte sich CDU-Bundesvize Julia Klöckner am Montag in Berlin vor einer Vorstandssitzung ihrer Partei leicht konsterniert. »Er scheint zu einem relativ frühen Zeitpunkt des Wahlkampfes die Nerven verloren zu haben«, meinte CSU-Chef Horst Seehofer am Montag vor einer Vorstandssitzung seiner Partei in München, in der es um das Wahlprogramm der Union ging. Dies sei »kein gutes Zeichen für einen Kanzlerkandidaten, eigentlich unwürdig«. Und Armin Laschet (CDU), designierter Ministerpräsident Nordrhein-Westfalens, forderte Schulz auf, seine »billige Attacke« zurückzunehmen und zu einer sachlichen Auseinandersetzung zurückzukehren. Mit seinem »Ausrutscher« gehe der Kandidat auch an der Wahrnehmung der Menschen vorbei.
Dass dies zutreffen könnte, darin besteht durchaus ein Risiko für Schulz, wenn er die Kanzlerin persönlich zu stellen versucht. Anders als in seiner auf dem Parteitag geschlossen agierenden Partei hat der Spitzenkandidat den Vertrauensvorschuss bei den Wählern in den letzten Wochen und Monaten bekanntlich bereits verspielt. Bei denen hat Merkel die Nase vorn. Eine Wiederbelebung der Sympathien, auf die die SPD jetzt setzt, käme deshalb einem kleinen Wunder gleich.
Zumindest vor dem Parteitag hatten Schulz und sein Team auch in der Bewertung der 20 »tonangebenden« Medien in Deutschland quasi bereits alles Renommee verspielt, das ihm anlässlich seiner Nominierung zugeflogen war, wie das Schweizer Unternehmen für Medienanalyse »Media Tenor International« in akribischer Kleinarbeit ermittelte. In der Zusammenfassung seiner Recherche heißt es: »Die Berichte über Schulz waren zu lange reduziert auf Umfragetrends, die letztlich nur Reflexe von Medienberichten sind. Seine Position in sachpolitischen Fragen lag über Monate unter 25 Prozent der Berichterstattung. Der Anteil steigt im Juni, aber sein Image ist schon ›gemacht‹.«
Nicht nur deshalb fragt sich, ob der SPD-Spitzenkandidat aus der mutwillig vom Zaun gebrochenen Debatte über das Demokratieverständnis der Bundeskanzlerin als Sieger vom Platz geht oder dabei nicht weiter an Ansehen verliert. Auch die Ansagen der SPD zu den realen Machtaussichten im Herbst lassen sie zunehmend einsam erscheinen. Denn zu erwarten, dass sich potenzielle Bündnispartner dem Programm der SPD mit wehenden Fahnen anschließen, wie es führende SPD-Politiker seit Wochen als Bedingung künftiger Koalitionen ausmalen, ist absurd.
Entsprechend derb fielen auch die Kommentare der Linkspartei auf den Parteitag und das Wahlprogramm der Sozialdemokraten aus. Schulz sei als Tiger abgesprungen - damit er nicht als Bettvorleger in einer Großen Koalition lande, brauche es eine starke LINKE. Fraktionschefin Sahra Wagenknecht nannte den Parteitag den »Endpunkt einer großen Desillusionierung«. Vor allem der Verzicht der SPD auf eine Vermögenssteuer im Wahlprogramm findet kein Verständnis bei der LINKEN. Auch DGB-Chef Rainer Hoffmann deutete an, dass die SPD hier noch »nachzujustieren« habe. Und Wagenknecht sieht bei Schulz gar die gleiche Wahlkampftaktik wie bei Kanzlerin Merkel. »Eine SPD, die nichts wesentlich anders machen will als die Union, braucht kein Mensch«, sagte Wagenknecht der »Welt«. Mit Agenturen
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