Merkels Meisterschaft
Die Kanzlerin und die Ehe für Alle: Tom Strohschneider über einen Vorstoß der CDU-Vorsitzenden, der ihr Spielraum im Wahlkampf verschafft
Angela Merkel hat sich abermals als Meisterin darin erwiesen, einen taktischen Nachteil in einen strategischen Schritt nach vorn zu verwandeln. Nach ihrer öffentlich geäußerten »Idee«, man möge über die Ehe für Alle doch besser im Zuge einer »Gewissensentscheidung« abstimmen, wird die Union gegen ein Bundestagsvotum nicht mehr viel vorbringen können. Die Frage ist nur noch: Wann.
Für eine Abstimmung vor der Wahl ist nur noch ein paar Tage Zeit. Das heißt, diese Variante ist eher unwahrscheinlich. Im politischen Berlin wird nun ohnehin herumerzählt, die Union setze auf eine Befassung in der kommenden Legislatur. Wie man hört, ist ihr Vorstoß keiner plötzlichen Eingebung entsprungen, sondern mit CSU-Chef Horst Seehofer abgestimmt gewesen. Sollte es also zur Abstimmung kommen: Ein Ja im Parlament, sofern die Abstimmung vom Fraktionszwang befreit wird, gilt als sicher. Das ist Merkels Botschaft.
Es wäre erstens eine gute Sache für all die Menschen, die bisher aufgrund eines rechtlich betonierten Familienbildes der Union das Nachsehen bei der freien Gestaltung ihres Privatlebens hatten.
Das wäre zweitens eine gute Sache für die Kanzlerin, die sich im Wahlkampf von einem symbolisch hoch bewerteten Thema befreien könnte. Der Ruf nach der Ehe für Alle würde sonst bis zum Herbst nicht nachlassen, die Erinnerung an die Blockade der Abstimmung darüber ebenso wenig.
Merkels Vorstoß wäre drittens taktisch klug, denn in einer Zeit, in der praktisch alle Parteien, die als Kooperationspartner in Frage kommen, die Ehe für Alle zur Bedingung machen, verschaffte sich die Union wieder den nötigen Spielraum für alle ihr gemäßen Koalitionen. Man kann hier anmerken: Das hat wohl auch etwas mit der ebenso späten wie dann doch klaren Ansage von Martin Schulz und der SPD bei diesem Thema zu tun. Und damit, dass viele Leute schon seit Jahren sich für diese Ehe für Alle engagieren.
Bühne der persönlichen Plauderei
Dass die Kanzlerin das bisher so betonierte »Nein« der Union zur Ehe für Alle ausgerechnet bei einer Veranstaltung einer Frauenillustrierten kippt, ist dabei kein Zufall. Indem die CDU-Chefin auf dieser Bühne der persönlichen Plauderei den eigenen Meinungswechsel mit einem »einschneidenden Erlebnis« erklärt, mit einer Erfahrung aus dem Alltag also, konnte sie überhaupt erst den parteipolitischen Status quo umgehen. Dies erinnert übrigens an ihre Begründung zum Atomausstieg im Lichte der Strahlenwolke über Fukushima: »Ich als Physikerin...«
Merkel hat fast im Vorbeigehen zudem noch eine rechtspolitische Markierung hinterlassen, die sicher einige Zeit weiterleuchten wird: Sie hat denen, die gegen Adoptionen gleichgeschlechtlicher Paare oft die Figur des »Kindeswohls« ins Spiel brachten, dieses Argument unter Verweis auf öffentliche Entscheidungen de facto entzogen.
Inszenierung als überparteiliche Instanz
Merkel verband ihre auf der Theaterbühne vorgebrachte »Überlegung« mit einer Mahnung, auch jene Positionen zu respektieren, die gegen eine weitere Öffnung des Instituts der Ehe sind. Mit der Ermöglichung einer »Gewissensentscheidung« vermag sich Merkel so auch als überparteiliche Instanz zu inszenieren - auch dies kein Nachteil im beginnenden Wahlkampf. Zumal Umfragen auf eine Mehrheit in der Bevölkerung für die Ehe für Alle deuten. (Deshalb erübrigt sich die Kritik daran freilich nicht, was eigentlich als Gewissensentscheidung im Bundestag gilt und was nicht.)
Wo eine Mehrheit ist, ist aber auch eine Minderheit. Dass die CDU-Vorsitzende bei einem Thema nun ihren Kurs der »nachholenden Modernisierung« der Union vorantreibt, für den sie auch im eigenen Lager, von einem Teil der konservativen Wählerschaft sowie von rechts aus kritisiert oder gar attackiert werden dürfte, spricht nicht gerade gegen Merkel, selbst wenn man einberechnet, dass ihre Entscheidung zuvörderst taktischen Überlegungen geschuldet war.
Auf der Seite des Fortschritts
In einer Zeit, in der politische Konfliktlagen sich in hochsymbolischen Fragen der Lebensführung, der Tradition, der Subjektivität und der persönlichen Autonomie niederschlagen, ist es keine Kleinigkeit, sich auf die Seite des Fortschritts zu schlagen. Mag sein, dass Merkel sich unter anderen Umständen, etwa bei höheren AfD-Umfragewerten, anders entschieden hätte. Hat sie aber nicht.
Merkel hat nicht zuletzt der Linkspartei einen Gefallen getan. Die ist zwar auch und zum Teil weitgehender als andere Parteien für die rechtliche Gleichstellung frei gewählter Lebensmodelle - es wird dies ihr aber nicht als wahlentscheidendes Thema zugerechnet. Im Wahlkampf stünde sie daher bei dieser Frage an der Seitenauslinie.
Von links kann man natürlich einwenden, dass die Ehe für Alle gar nicht das richtige Ziel ist, sondern die Aufhebung der Ehe als Institut angestrebt werden müsste, weil es ja immer noch Leute gibt, die ganz andere Formen des Zusammenlebens, der gemeinsamen Verantwortung und so fort anstreben. Aber eine Ausweitung der Gleichstellung im gegenwärtigen Rechtsrahmen wäre unter dem Strich sicher ein Schritt in die richtige Richtung.
Ein Wahlkampf, in dem die Ehe für Alle wieder und wieder ins Zentrum gerückt wird, würde wohl vor allen als Treibstoff für eine Ampelkoalition aus SPD, Grünen und FDP wirken. Dieser Stoff wird nun nicht mehr zünden. Ganz egal, wann die Ehe für Alle zur Abstimmung kommt, man wird sich im Wahlkampf an Merkels Auftritt vom Montagabend erinnern.
An ihr, so die Botschaft, wird die Ehe für Alle nicht mehr scheitern. Kontroverses Thema abgeräumt, Hürden für Koalitionen auch. Union zeitgemäßer werden lassen. Dabei die Überparteiliche spielen. Das ist Merkels Meisterschaft.
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