Bis in den letzten Winkel der Welt
Ein neues Forschungsprogramm untersucht die digitale Hochschullehre
Es ist erst knapp fünf Jahre her, da schien auf die Hochschulen eine digitale Revolution neuer Art zuzurollen, die letztlich sogar das Geschäftsmodell universitärer Lehre hätte in Frage stellen können. »MOOC« lautete das Zauberwort - »Massive Open Online Course«, sinngemäß auf Deutsch: offener Massen-Online-Kurs. Dieses System elektrisierte die Hochschuldidaktiker zuerst in USA, bald aber auch in Deutschland. Mit Universitätsvorlesungen der besten Wissenschaftler, die ins Internet gestellt werden, sollte das Wissen aus den Hörsälen befreit und in allen Winkeln der Erde benutzbar gemacht werden. Der wissenschaftliche Elfenbeinturm in seiner elitär-abgeschotteten Bildungstradition sollte damit ins Wanken gebracht werden.
Inzwischen ist der MOOC-Hype vorübergezogen, ohne dass die Online-Kurse tatsächlich zu einer didaktischen Massenbewegung geworden wären. »Die deutschen Wissenschaftler waren bei diesem Thema auch eher zögerlicher gewesen«, stellt die Staatssekretärin im Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) Cornelia Quennet-Thielen im Vergleich zu den USA fest. »Aus heutiger Sicht kann man sagen, wir haben recht behalten.«
Gleichwohl bleibt das Thema Digitale Lehre für die Universitäten und Hochschulen weiter auf der Tagesordnung. Allein schon deswegen, weil mit jedem Studierendenjahrgang die Zahl der »Digital Natives« wächst, die an die Nutzung von Tablet und Smartphone gewohnt sind. Aber nicht aus diesem Grund hat jetzt das BMBF einen neuen Forschungsschwerpunkt »Digitalisierung in der Hochschulbildung« aufgelegt, der in den nächsten drei Jahren mit 12 Millionen Euro ausgestattet ist. Anlass ist, dass sich jetzt - wo die digitalen Techniken in den Lehrbetrieb einziehen - herausstellt, wie wenig noch über ihre didaktische Wirksamkeit und damit auch die Möglichkeiten zu ihrer Verbesserung bekannt ist. »Die Anwendung digitaler Formate führt nicht automatisch zu einer besseren Lehre«, sagte Forschungspolitikerin Quennet-Thielen bei der Vorstellung des Programms. »Von entscheidender Bedeutung sind die didaktischen Konzepte, die hinter der Nutzung digitaler Technologien stehen, um zum Beispiel Studierende aktiver einzubinden.«
Von einer Expertenjury wurden 20 Einzel- und Verbundprojekte deutscher Hochschulen ausgewählt, in denen digitale Lehre praktiziert wird. Untersucht wird, wie digitale Lernformen dazu beitragen können, »das Lernen für jeden Lerner individueller zu gestalten, oder welche Maßnahmen Inklusion am besten fördern«, heißt es in der Projektbeschreibung. Die Fragen, die beantwortet werden sollen, lauten unter anderem, ob Physikstudenten besser lernen, wenn sie Experimente am Bildschirm virtuell durchführen. Oder kann eine Online-Lehrplattform mit 3D-Effekten den Studierenden der Medizin ein besseres Verständnis der Anatomie vermitteln? Ebenso ist von Interesse, wie eine Testsoftware die Hochschullehrer bei der Erstellung und Auswertung von Prüfungsklausuren unterstützen kann.
»In der Bildungsforschung hat man bisher nur den konventionellen Unterricht und den Unterricht mit digitalen Medien verglichen«, berichtet Michael Kerres, Mediendidaktiker an der Universität Duisburg-Essen. »Aber wirklich durchschlagende Ergebnisse sind dadurch nicht zustande gekommen.« Viel wichtiger sei aber, und dies werde von dem neuen Forschungsprogramm für digitale Ansätze untersucht, »dass wir viel genauer hinschauen müssen auf die Gelingensbedingungen für ein anderes Lernen«, betont Kerres. Dazu zählt für ihn ein Lernen, das »mehr auf Nachhaltigkeit und Transfer angelegt« ist, stärker mit authentischen Materialien arbeitet, mit problembasierten und kooperativen Methoden. »Das etwas grobschlächtige Denken: mit Digitalisierung wird das Lernen schon besser werden«, meint Kerres, »das ist heute vorbei«.
Von Interesse ist für das Ministerium aber auch die schnelle Verbreitung der vorbildlichen Ansätze. Die Fachhochschule Lübeck hat sich in den letzten Jahren eine solche Expertise erarbeitet. »Der Kerngedanke unseres Geschäftsmodells war es, dass der Aufbau digitaler Angebote zwar teuer ist, gerade für die kleineren Hochschulen«, berichtet Muriel Helbig, Präsidentin der Fachhochschule Lübeck mit gerade einmal 4800 Studierenden. »Aber wenn die Lehreinheit erstellt ist, verursacht die Vervielfältigung keine Kosten mehr.« Das Lübecker Geschäftsmodell heißt Skalierung. Helbig: »Weil wir dafür sehr unternehmerisch agieren müssen, haben wir eine eigene Dienstleistungs GmbH gegründet, die Module für Hochschulen in ganz Deutschland entwickelt und betreut.« In dieser Firma für digitale Lehre sind bereits 80 Mitarbeiter beschäftigt. Die Fachhochschule hat mittlerweile die Rechte an 300 Online-Studienmodulen, die eigene MOOC-Plattform auf Youtube hatte bisher 1,7 Millionen Klicks.
Stolz ist Rektorin Helbig auch auf qualitative Würdigungen: »So haben wir kürzlich den Innovationspreis des Leibniz-Instituts für Erwachsenenbildung bekommen.« Die in Lübeck entwickelte digitale Lernplattform integration.oncampus.de ermöglicht »einen schnellen, flexiblen und einfachen Zugang zum deutschen Hochschulsystem und fördert so die berufliche Integration der nach Deutschland kommenden Menschen«, befand die Preisjury. Die Kurse auf der Plattform umfassen verschiedene Fachdisziplinen sowie Angebote zum Erwerb der deutschen Sprache wie das Aussprachetraining für arabische (syrische) Deutschlerner, den Massive Open Online Course DEU4ARAB.
Auch Oliver Janoschka, der Geschäftsführer des Hochschulforums Digitalisierung, ist der Meinung, dass die digitale Bildung dabei ist, sich aus der Nische in eine breite Nutzung zu bewegen. Sein Forum hat seit 2013 über 70 Experten befragt und intensiv vernetzt. »Wir haben in dieser Arbeit einen guten Überblick gewonnen und wissen, wie die Landkarte der Digitalbildung in Deutschland aussieht«, sagt Janoschka. Das Forum geht jetzt in seine zweite Phase und konzentriert den Expertenaustausch auf drei Schwerpunkte. Bei der Lehrerbildung geht es um die Weiterentwicklung der universitären Ausbildung für das Lehramt. Beim Thema »Curricula 4.0« befasst sich das Forum mit den Lehrinhalten, die sich an die Studenten richten. Zudem wird nach neuen Lösungen für die Anerkennung und Anrechnung von digital erbrachten Lernleistungen gesucht. Auch hierbei geht es um Verbund-Lösungsideen, die hochschulübergreifend umgesetzt werden können.
»Der Digital Turn, wie wir ihn nennen, ist mitten im Prozess«, sagt Janoschka vom Hochschulforum Digitalisierung. Es existiere inzwischen eine größere Aufmerksamkeit für das Thema.
Über das neue Forschungsprogramm informiert am 3. und 4. Juli die Fachtagung »Hochschulen im digitalen Zeitalter« in Berlin. Infos: hochschulforumdigitalisierung.de
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