Tu nix! Tu was! Was tun?

Die Neue Linke zwischen »Theoriearbeit« und dem »Ideal des Konkreten« - ein Diskussionsstand

  • Velten Schäfer
  • Lesedauer: 5 Min.

Gesellschaftstheorie ist anstrengend. Sie bespielt obskure Zeitschriften, deren Kenntnis man sich erarbeiten muss. Sie erscheint in Bleiwüsten, deren schierer Anblick ausschließend wirken kann. Theorie ist aber auch eine faszinierende Macht. Aus trockenen Texten erheben sich Leidenschaften. Sie führt Menschen zusammen, sie macht einander lieben und hassen. Sie verändert Handeln und mittelbar Gesellschaft.

Historiker können Theorie entsprechend vielgestaltig betrachten. Man kann auf die Ideen blicken, die sie enthält - auf ihre Vorstellungen guten Lebens, auf ihre Zeitdiagnosen und Zukunftsrezepte. Man kann die Institutionen untersuchen, die Theorie hervorbringen und überliefern: Parteien, Verbände, Zirkel, Verlage, Zeitschriften oder WGs. Interessant ist aber auch die Frage nach dem Stellenwert des Theoretisierens: Welchen Status hat Theorie wann in sozialen Bewegungen? Wie wird sie produziert - und mit ihr die »Theoretiker« als soziale Charaktere?

Die westeuropäische »Neue Linke« - jenes Feld zwischen Sozialdemokratie, Parteikommunismus und den K-Gruppen der 1970er Jahre - ist in all diesen Dimensionen ein lohnendes Feld zum Studium der Theorie und des Theoretisierens. Das zeigte jüngst das mit Beifall aufgenommene Buch des Berliner Kulturwissenschaftlers Philipp Felsch über den »langen Sommer der Theorie« zwischen 1960 und 1990. Und nun auch ein Workshop, zu dem zu Wochenbeginn das historische Promotionskolleg der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Bochumer Institut für Soziale Bewegungen und das Potsdamer Zentrum für zeitgeschichtliche Forschung (ZZF) eingeladen hatten.

Stellenwert, Habitate und typische Darbietungen von »Theorie« verändern sich in dem zeitlichen und politischen Raum, den man der Neuen Linken zurechnen kann, erheblich - und unterliegen hierzulande besonderen Bedingungen. So entstand, wie Felix Kollritsch (Bochum) unterstrich, mit dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS), der erste Kern der deutschen Neuen Linken nicht - wie in Frankreich oder Großbritannien - als Absetzungsbewegung von als erstarrt geltenden kommunistischen Parteien, sondern von der SPD, an der er sich stets abarbeitete.

Zudem hatten die akademischen Räume, in denen sich diese Genese vollzog, eine besondere Geografie. Das zeigte David Bebnowski (Potsdam) anhand des Juristen, Soziologen und Wissenschaftsmanagers Franz Neumann: Der Mitgründer des heutigen Otto-Suhr-Instituts der Berliner FU hatte als einstiger Parteigänger der USPD in der Emigration bei der »Research & Analysis Branch« des US-Geheimdienstes OSS angeheuert. Seine Wirkung als Wissenschaftsorganisator basierte auf Kontakten zu US-Regierungsstellen - und ist im Zusammenhang jener amerikanischen Ideenpolitik in Westeuropa zu sehen, in der auch die verdeckt geheimdienstliche Wissenschafts- und Kulturorganisation »Kongress für kulturelle Freiheit« stand: Kampf gegen den Kommunismus durch Förderung und Bindung gerade linksliberaler Intelligenz.

Neben der Teilungssituation sorgte auch dieser Hintergrund dafür, dass die Neue Linke selbst nach 1967 bei aller Kritik am »US-Imperialismus« nie prosowjetisch war. Eine gewisse Ausnahme bildete in der Bundesrepublik die Zeitschrift »Alternative«, mit der sich Moritz Neuffer (Berlin) befasst. Herausgeberin Hildegard Brenner, eine der zunächst wenigen Frauen in der Theorieproduktion der Neuen Linken, stand im Dialog etwa mit Heiner Müller und arbeitete bisweilen mit DDR-Archiven zusammen - etwa im Streit mit Theodor W. Adorno, dem sie eine marxistische Komponenten herunterspielende »Manipulation« des Nachlasses von Walter Benjamin vorwarf. Meist suchte sich die Neue Linke aber Anknüpfungspunkte jenseits des europäischen Staatssozialismus, die im Nachhinein teils befremdlich wirken. In seinem Vortrag über das »Kursbuch« zwischen 1965 und 1975 wies Kristof Niese (Bonn) darauf hin, dass selbst in dieser recht arrivierten Publikation im Gegensatz zum Warschauer Pakt ausgerechnet China stets positiv erschien - inmitten der »Kulturrevolution«.

Wie gewichtig war nun »Theorie« als Praxis der Neuen Linken zu bestimmten Zeitpunkten? Im SDS der 1960er Jahre herrschte bei allem Studium materialistischer Theorie das idealistische Politikverständnis, soziale Umwälzung bedürfe eines »Fundaments« umfassender gedanklicher Durchdringung. Benedikt Sepp (Konstanz) betonte, dass der SDS schon in seiner organisatorischen Struktur einem begehbaren Theoriegebäude glich. »Theoriearbeit« war Pflicht - auch wenn man den Kompromiss machte, dass dies auch durch Zeitungsstudium zu erfüllen war.

Anknüpfend lässt sich spekulieren, ob nicht die jüngst rund um Didier Eribons »Rückkehr nach Reims« problematisierte habituelle Entproletarisierung eines weiter gefassten sozialdemokratischen Milieus ihren Anfang gerade in einer Theoriebewegung nahm, die teils radikale Klassenpolitik propagierte. Interessant sind hier auch die in den 1970er Jahren nicht nur - wenn auch vordringlich - in K-Gruppen unternommenen Versuche einer gegenläufigen »Arbeiterwerdung« junger Intellektueller.

Dass und wie der - meist männliche - Weltdurchschauergestus des SDS oder der späteren K-Gruppen Ende der 1970er Jahre an Bedeutung verlor, diskutierten Anina Falasca, Katharina Kreuzpaintner und Jana König (alle Berlin). Kreuzpaintner zeigte anhand einer genauen Lektüre von Klaus Theweleits 1977 und 1978 erschienenen Patriarchatskritik »Männerphantasien«, dass diese Abkehr von einem Theoriemonolithismus bereits in der dokumentarischen, anekdotischen und bildgestützten Arbeitsweise angelegt war. Falasca sprach anhand des Berliner »Tunix«-Kongresses von 1978 von einer »theoretischen Neuorientierung« am französischen Poststrukturalismus; König beschrieb »Tunix« als »Abkehr« von der Theorie zugunsten eines »neuen Ideals des Konkreten«. Kommensurabel ist dies insofern, als dass jene »French Theory« Versuche einer allumfassenden Weltdurchdringung zurückweist und Theorie als »Werkzeugkasten« anlegt.

Diese theorieskeptische »Politik der ersten Person« gab es freilich nicht nur in der von »Tunix« angestoßenen »Alternativkultur«, die später in das viel verspottete »Bionade-Biedermeier« mündete, sondern auch in militanten Varianten - etwa bei den »Autonomen« -, die sich anhand des »Tuwat«-Kongresses von 1981 studieren ließen. Und selbst die »Stadtguerilla«, über die Robert Wolff (Frankfurt) referierte, lässt sich hier einordnen: Wenn etwa die RAF erklärte, nur der »bewaffnete Kampf« selbst könne dessen theoretische Richtigkeit beweisen, ist dies nicht nur die äußerste Zuspitzung der »militanten Untersuchung« aus dem italienischen Operaismus, sondern auch eine Extremform jenes voluntaristischen »Ideals des Konkreten«.

1989/90 erlitten zunächst alle linken Bewegungen einen Rückschlag. Zugleich kehrte die Sozialfigur des Weltdurchschauers in neuer, nunmehr grundpessimistischer Gestalt zurück. König diskutierte dies anhand des 1993 von der Zeitschrift »konkret« veranstalteten Kongresses »Was tun?«, auf dem sich unter anderem die sogenannte antideutsche Strömung kristallisierte. Im Licht der rassistischen Mobilisierungen der frühen 1990er Jahre schien Umwälzung nur zum Schlimmen möglich; beim »Überwintern«, postulierten sich als »Einsiedler« inszenierende Theoretiker nun wieder, müsse eine »richtige Theorie« jeder Form von umwälzender Praxis vorangehen. Dabei wurde und wird vor allem auf die Frankfurter Schule zurückgegriffen, von der sich die Neue Linke einst abgestoßen hatte. Bis heute wirken diese Debatten in der außerinstitutionellen Linken fort. Sie zu historisieren, verspricht eine lebhafte Debatte - schon weil dann eine weitere Generation die Erfahrung machen wird, wie es ist, von Jüngeren kategorisiert und »eingeordnet« zu werden.

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