Die Frau mit dem längsten Atem
Wird die US-Abgeordnete und Friedenspreisträgerin Barbara Lee doch noch erhört? Von Reiner Oschmann
Am 14. September 2001 stand Barbara Lee, die Afroamerikanerin mit dem runden Gesicht, den kleinen Locken und den warmen Augen, plötzlich sehr allein. Es war der erste Freitag nach Dienstag, dem 11. September, jenem für die USA schwarzen Tag, an dem Al-Qaida-Terroristen Passagierflugzeuge zu Raketen ummodelten und dreitausend Menschen ermordeten. Drei Tage nach Nine-Eleven ergriff die Abgeordnete der Demokraten, Mutter zweier Söhne, im Repräsentantenhaus das Wort und katapultierte sich ins Abseits: Als Einzige aus Abgeordnetenhaus und Senat, den beiden Kammern des Parlaments in Washington, sprach und stimmte Barbara Lee gegen Krieg als Antwort auf die Terrorserie.
Dem Publizisten Gary Younge bekannte sie elf Jahre später, sie sei an jenem 14. September ebenso aufgewühlt gewesen wie ihre Kollegen. Doch zugleich habe sie sich daran erinnert, dass sie gewählt worden sei, um ihren Wählern Augenmaß und Führung zu zeigen. »Ich habe mir gesagt: Wait a minute, du kannst nicht nur deinen Emotionen folgen.« Lee sprach, wie viele, mit brüchiger Stimme und wiederholt den Tränen nah. Aber sie lehnte es ab, einen US-Krieg gegen Afghanistan zu bewilligen - und war mit einem Schlag sehr einsam. Nach der Rede bedrängten sie Abgeordnete im Erfrischungsraum: »Du hast einen Fehler begangen, Barbara, du solltest deine Stimmabgabe korrigieren.« Barbara tat es nicht und bekam in den Folgetagen, als noch immer Rauch aus den gewesenen Twin Towers stieg, die Quittung. Als Hochverräterin beschimpft, erhielt sie Morddrohungen und musste rund um die Uhr von Beamten der Kongresspolizei geschützt werden.
In jenen Tagen der Präsidentschaft von George W. Bush war weder abzusehen, dass sie ein Jahr drauf für ihre Haltung mit dem Aachener Friedenspreis geehrt werden, noch dass im Sommer 2017 der Krieg in Afghanistan immer noch schwelen würde. Nun aber widerfährt Barbara Lee, der Frau mit dem längsten Atem, womöglich späte Genugtuung: Vor wenigen Tagen beschloss der Bewilligungsausschuss des Abgeordnetenhauses, ihren Antrag zu erörtern, der die 2001 vom Parlament beschlossene - und seither nie in Frage gestellte - Autorisierung militärischer Gewalt der USA erneut abstimmungspflichtig macht. Sollte ihre Initiative im Haus Erfolg haben, würde sie die Gesetzgebung von 2001 aufheben, die in den vergangenen 16 Jahren »dem Präsidenten, jedem Präsidenten den Freibrief ausstellte, Endloskrieg zu führen«, wie Lee sagt. Ihr Ziel, erklärt sie, perplex über die Wendung, sei eine gründliche Plenardebatte über die Frage, ob erneute Kriegsbewilligung auf Basis eines Blankoschecks strategisch und moralisch vernünftig wäre.
Wie George W. Bush stammt Barbara Lee aus Texas, womit sich beider Gemeinsamkeiten erschöpfen. 1960 zog sie mit den Eltern nach Kalifornien und machte 1975 an der Universität von Berkeley ihren Magister in Sozialkunde. Die Parlamentarierin, die nächste Woche 71 wird, war während des Studiums in der Black-Panther-Bewegung aktiv und saß von 1990 bis 1998 im Parlament von Kalifornien. Seit 1998 ist sie ohne Pause Abgeordnete der Demokraten für Kalifornien, aktuell für den Bezirk Oakland bei San Francisco, im US-Repräsentantenhaus.
Bis zu Obamas Wiederaufnahme der diplomatischen Beziehungen Washingtons zu Havanna hatte sich Lee viele Jahre für eine Normalisierung des Verhältnisses zu Kuba stark gemacht. Vermutlich gibt es kein zweites Kongressmitglied, das so oft wie sie Fidel Castro traf. Auch dies ein Alleinstellungsmerkmal, das ihr in Amerika nicht automatisch Sympathiezuwachs eintrug. Aber hier wie da, in der Friedens- wie der Kubafrage, legt die Demokratin jene Mischung aus Gelassenheit und Geradlinigkeit an den Tag, für die es - siehe Bernie Sanders - in der US-Politik immer mal prachtvolle Exemplare gibt. Das gilt auch für andere Haltungen: So wie Tom Strohschneider im »nd«, lesbar angetan, in seiner Rezension zu Sanders‘ Buch »Unsere Revolution« dessen Wertschätzung für Frau Clinton vermerkte, kann man Lees Unterstützung für Hillary Clinton im vorjährigen Präsidentschaftswahlkampf festhalten. Beide, Sanders wie Lee, beteiligen sich gewöhnlich nicht an der Verteufelung von Parteifreunden oder -gegnern. Eine Rarität.
Bemerkenswert an der jähen Wendung in Sachen Kriegs-Freibrief aber ist, dass 16 Jahre nach Nine-Eleven, nach Tausenden Toten am Hindukusch und nachdem Afghanistan weiter ohne Frieden ist, wenigstens die Berechtigung von Lees Drängen anerkannt wird. Ob daraus Grund für größere Zuversicht erwächst, bleibt fraglich in einem Amerika unter dem aufrüstungshungrigen Trump und einem republikanisch kontrollierten Kongress, dem selbst Trumps Ansatz für das neue Haushaltsjahr ab Oktober zu gering ist. Kein Risiko bedeutet indes die Vorhersage, dass Barbara Lee sich mehr als viele der Notwendigkeit langen Atems bewusst ist und nicht zuletzt vom Kongress mehr Einsatz fordert. Gerade wenn die Verfassungspflichten des Bundesparlaments aufgerufen sind, verhalte der Kongress sich oft bieder oder sei, wie Lee mit Anleihe aus Amerikas Militärwortschatz formuliert, »missing in action« - im Kampf vermisst. »Wir befinden uns auf einem langen Weg, der Hartnäckigkeit erfordert. Es geht schließlich um Frieden.«
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