Gewaltritt durch den Paragrafendschungel
Bundesrat schafft Möglichkeit zum finanziellen Austrocknen von Parteien und winkt Ehe für alle durch - außer für Minderjährige
Mit leichter Hand verabschiedeten die Ländervertreter am Freitag mehrere Gesetzesvorhaben, die in den Augen nicht nur von emotional oder real Betroffenen durchaus an die Substanz des Rechtsstaates gehen. So ist nun der Weg frei für eine Sanktionierung von Parteien durch Entzug der Parteienfinanzierung. Zwar zielt das Gesetz zunächst direkt auf die NPD, deren Verbot der Bundesrat im Januar vor dem Bundesverfassungsgericht nicht hatte durchsetzen können. Aber der Gesetzgeber revanchiert sich für einen Hinweis der Richter, Sanktionen seien gegenüber verfassungsfeindlichen Parteien durchaus möglich - mit der Ermächtigung des Bundesverfassungsgerichts, solche Parteien von staatlicher Finanzierung wie auch von steuerlicher Privilegierung auszuschließen. Einen entsprechenden Antrag zur NPD wird die Länderkammer schon bald stellen. Der Finanzierungsausschluss gilt für sechs Jahre, ist aber verlängerbar.
Umstritten wegen verfassungsrechtlicher Bedenken war auch das Gesetz zur Quellen-Telekommunikationsüberwachung (TKÜ) und Onlinedurchsuchung, das Strafermittlern das Abfangen verschlüsselter Kommunikation erlaubt, ebenso, wie die Durchsuchung von Datenspeichern mithilfe von Spionagesoftware. Unbemerkt und aus der Ferne können Verdächtige auf Hinweise zu Straftaten abgeklopft werden - nach richterlicher Zustimmung. Ähnlich strittig ist das sogenannte Netzwerkdurchsetzungsgesetz, das der Bundestag erst am 30. Juni beschloss. Es ist nicht nur mit heißer Nadel gestrickt; der Bundesrat behandelte es fristverkürzt, damit es am 1. Oktober in Kraft treten kann. Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) konnte auch den Vorwurf von Kritikern nicht entkräften, dass soziale Netzwerke wie Facebook, Twitter und Youtube problematisch erscheinende Inhalte nun vorschnell löschen könnten und damit der Freiheit von Wort und Bild damit ein Bärendienst erwiesen wäre. Die Internetfirmen sind nun verpflichtet, strafrechtlich relevante Inhalte innerhalb von 24 Stunden nach einer Nutzerbeschwerde zu löschen oder zu sperren. Nicht offensichtlich rechtswidrige Inhalte sind innerhalb von sieben Tagen zu löschen.
Die frischgebackene Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, Manuela Schwesig (SPD), erhielt am Freitag die Gelegenheit zu ihrem ersten Auftritt in neuer Funktion und begründete ihre Zustimmung zum Rentenangleichungsgesetz. Rentenwerte Ost und West werden bis zum 1. Januar 2025 angeglichen. Den gleichzeitigen Wegfall der Höherstufung der Ostlöhne, die im Durchschnitt unter denen im Westen liegen, nannte Schwesig eine Frage der Gerechtigkeit. Niedrige Löhne gebe es auch im Westen. Das Problem, dass Ostrentner dadurch auch künftig niedrigere Renten zu erwarten haben, löste der Bundesrat mit einem Appell an die Tarifparteien, Politik und Wirtschaft, bei der Eindämmung des Niedriglohnsektors »deutliche Fortschritte zu erzielen«. Auch die Gesetzesänderungen zur Betriebsrente billigte die Länderkammer. Thüringen enthielt sich der Stimme unter Hinweis auf die Bevorzugung von Arbeitgebern und Versicherungswirtschaft sowie die Benachteiligung der Arbeitnehmer, die das Kapitalmarktrisiko ausbleibender Rentenerlöse dank des Gesetzes allein zu tragen haben.
Mit der Fortschreibung der Pflegereform soll der Pflegeberuf aufgewertet werden. Der Bundesrat billigte das Gesetz, das eine generalistische Ausbildung mit anschließender Spezialisierung vorsieht.
Winfried Kretschmann, Ministerpräsident Baden-Württembergs, nutzte die Abstimmung über die »Ehe für alle«, um angedrohte Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht juristisch schon einmal probehalber vollständig zu demontieren. Eine Änderung des Grundgesetzes werde durch die Ehe für alle nicht nötig, erläuterte der Grüne den Wandel juristischer Normen und die Pflicht des Gesetzgebers, diesem zu entsprechen. Verfassungsjuristen seien keine Archäologen, die im Gesetz danach suchten, was früher mit seinen Formulierungen gemeint war. Nebenbei schränkte der Bundesrat die Ehe ein - für Minderjährige. Ehen mit Partnern unter 16 Jahren sind ausnahmslos für nichtig erklärt, unter 18 Jahren sollen sie Ausnahmeentscheidung bleiben. Kommentar Seite 2
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