Ich und ihr, wir und du

Elton John gastierte in der Berliner Mehrzweckhalle am Ostbahnhof

  • Thomas Blum
  • Lesedauer: 4 Min.

Fast alle sind sie da: der Betriebswirt und die Zahnarzthelferin, die Rechtsanwältin und der Verwaltungsangestellte, der Tanzlehrer und die Steuerberaterin, der Busfahrer, die Studentin und Onkel Herbert. Manch anderer aber auch nicht, denn er kann sich die Eintrittskarte nicht leisten. Es ist ein Fest der Generationen, wenn auch eher der älteren. Die Halle ist bestuhlt, die Stimmung so gesittet wie im Studio von Ilja Richters »Disco 79«. (Die Älteren werden verstehen, wovon hier die Rede ist.) Der halbe Liter Bier kostet 5,50 Euro, also elf Mark. Der Konzertabend steht unter dem Motto »A Wonderful, Crazy Night«.

Punkt 19.30 Uhr betritt der vor kurzem 70 Jahre alt gewordene Sir Elton John die Bühne der Berliner Mehrzweckhalle am Ostbahnhof. Ein Raunen und Jubeln geht durch die Menge. Der britische Popstar, früher als der Mann mit den tausend Brillen bekannt, trägt über dem roten Oberhemd einen purpurfarbenen, paillettenbesetzten Glitter- und Glitzerfrack, begrüßt höflich sein Publikum in der vollbesetzten Halle und verneigt sich artig, bevor er sich an den Flügel setzt und zu spielen beginnt. Auf der Rückseite seines Fracks prangt der Schriftzug »Fantastic«. Eine Band hat er auch mitgebracht, in dunklen Anzügen steckende ältere Herren mit Krawatten, deren Aufgabe es ist, den zu erwartenden Blues- und Boogie-Woogie-Nummern Wumms zu verpassen.

Der Sound ist an diesem Abend nicht der kristallklarste, nicht wenige Stücke werden zergniedelfitzt und zerbollert. »Wait on me girl / Cry in the night if it helps / But more than ever / I simply love you / More than I love life itself.« Klar, am Anfang immer eine Nummer aus den frühen Achtzigern, da hat man die durchschnittsalte Publikumsmehrheit gleich auf seiner Seite. »I guess that’s why they call it the Blues.« Auf der Leinwand hinter der Band fallen stilisierte Tränen auf dunkelblauem Hintergrund.

Nach einem jeweils gerade zu Ende gegangenen Song steht Elton John gelegentlich auf und gestikuliert ein wenig, ganz so, als wolle er so etwas andeuten wie: Na, stehe ich nicht leibhaftig hier? Schließlich muss der vergleichsweise kleine Mann, der die meiste Zeit hinter seinem Flügel verbringt, hinter dem er nur knapp hervorragt, sich hie und da dem Publikum zeigen, denn wegen ihm ist es schließlich hier. Bisweilen, nach einem Lied, spuckt er in einen neben dem Flügel bereitgestellten Napf und nimmt hernach einen Schluck Flüssigkeit aus einem Becher zu sich.

Ein bis zwei Mal wirft er nach einem Song Kusshände in die Menge, grient dabei freundlich und zeigt mit dem Finger in sie hinein, als wolle er wortlos mitteilen: Ich bin euer Elton und ihr seid mein Publikum!

Vor mir sitzen drei männliche Siebzehnjährige, die erstaunlicherweise jede Platte des Altmeisters zu kennen scheinen, denn bei nahezu jedem Lied, das er anstimmt, sei es eine wehmutsgesättigte Popballade oder ein Boogie-Evergreen, recken sie freudig die Arme und Fäuste, fuchteln und zucken und singen den Text mit. Und wenn Elton mit seiner nun schon etablierten Fingerzeiggeste ins Publikum zeigt, zeigen sie enthusiastisch zurück, als wollten sie wortlos mitteilen: Wir sind dein Publikum und du bist unser Elton!

Zwischendurch wird der Künstler kurzzeitig besinnlich und spricht ernste Worte, er spricht über die in Europa verübten Terroranschläge der jüngsten Zeit, »in London, in Manchester, auf dem Weihnachtsmarkt in Berlin«. So viele Menschen, sagt er, seien dabei hingemetzelt worden, er habe den Hass so satt. Er ziehe die Liebe vor, »denn sonst haben wir keine Hoffnung«. Das sind gute, wohlmeinende Worte, die von der Zuhörerschaft mit Applaus bedacht werden.

Dann tritt irgendwann der langhaarige Gitarrist an den Bühnenrand und gibt ein sehr gniedeliges, mucker- und mackerhaftes Original-70er-Jahre-Gitarrensolo zum Besten. Das ist nicht schön, aber das muss so sein, denn Elton Johns zentrale Schaffensphase liegt in den 70er Jahren des vergangenen Jahrhunderts. Zu »Rocket Man« wird auf der Leinwand die Erdkugel aus Astronautensicht gezeigt. Am Ende folgt schließlich der lang erwartete Hit-Block: »I’m Still Standing«, »Crocodile Rock«, »Saturday Night’s Alright For Fighting«. Dann ist Schluss, so meint man. Doch am Ende kommt der Entertainer nochmal auf die Bühne und signiert Platten, CDs und andere Devotionalien, die ihm von Fans aus der ersten Reihe entgegengehalten werden. Am Ende droht das Unvermeidliche: »Candle In The Wind«. Dann aber wirklich: Schluss, Aus, Amen.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.