»Bild« über dem Gesetz?
Mutmaßliche G20-Randalierer wurden mit großen Fotos in dem Boulevardblatt zur Fahndung ausgerufen
Eigentlich sollte man die »Bild«-Zeitung gar nicht thematisieren. Zum einen spült die (stets abperlende) Kritik nur noch mehr Leser in die kommerzielle Verwertung des politischen PR-Konzerns. Zum anderen suggeriert die Skandalisierung eines einzelnen »Bild«-Artikels, dass all die gleichzeitig veröffentlichten Beiträge des Systems Springerverlag nicht skandalös wären. In diesem Text soll es eine Ausnahme geben, da es um einen elementaren Rechtsgrundsatz geht, der von der »Bild« immer und immer wieder attackiert wird: Wer die Persönlichkeitsrechte eines mutmaßlichen Mörders verteidigt, der verteidigt nicht nur die verbürgten Rechte eines Menschen, für den bis zur Verurteilung die Unschuldsvermutung gelten muss. Er verteidigt zudem eine zivilisatorische Errungenschaft.
Die »Bild«-Zeitung bekämpft diese Errungenschaft schon lange leidenschaftlich und stellt sich regelmäßig anmaßend, offensiv und mit messianischem Anspruch über das Persönlichkeitsrecht - indem sie mutmaßliche Straftäter schon nach der Verhaftung und lange vor einem Richterspruch identifizierend abbildet und so vorverurteilt. Dadurch wird nicht nur eine möglicherweise später freigesprochene Person schwer beschädigt. Die Praxis erzeugt auch eine hetzerische Atmosphäre, die Freisprüche unwahrscheinlicher macht. Opfer von Verbrechen müssen von diesen sogenannten Journalisten ebenfalls keine Pietät erwarten.
Nun hat die »Bild« es wieder getan: Mutmaßliche G20-Randalierer wurden mit großen Fotos abgebildet, die Leserschaft zur Mit-Fahndung aufgerufen. Ein Angeprangerter hat sich daraufhin der Polizei gestellt, wie das Blatt am Dienstag triumphierend verkündet. Dieser »Sieg« für »Bild« ist eine schwere Niederlage für das Rechtsempfinden, die höhnische Twitterbotschaft von Chefredakteurin Tanit Koch macht es noch unerträglicher: »Merke: keine Steine werfen, keine Titelseite.« Dazu kommt, dass die Erfahrung zeigt, dass die mutmaßliche Rechtsbeugung durch »Bild« einfach nicht befriedigend sanktioniert wird. Da ist es zweitrangig, wie viele Menschen sich nun empört an den Presserat wenden.
Es geht hier übrigens nicht um die Bewertung der Randalierer in Hamburg. Die darf man getrost als politisch-strategische Volltrottel und entweder instrumentalisierte oder verblödete Pseudo-Macho-Provokateure bezeichnen, die das Geschäft des Gegners erledigen. Es geht stattdessen bei der Kritik am Verfolgungseifer eines privaten Medienkonzerns um ein extrem wichtiges, langwierig installiertes Prinzip des Rechts. Und das darf (vor dem Urteil) selbst bei mutmaßlichen Nazis, Vergewaltigern oder Kinderpornografen nicht verletzt werden - nicht ein einziges Mal, sonst verliert es seinen Wert. Man kann nur hoffen, dass »Bild« den Bogen diesmal überspannt hat. Denn einen Fahndungsaufruf darf nur die Polizei aussprechen, wie etwa Klaus Hempel aus der ARD-Rechtsredaktion betont.
Ein weiterer Aspekt gilt dieser Tage über die »Bild« hinaus für große Teile der deutschen Medienlandschaft: Viele Journalisten offenbaren ein geradezu gruselig schizophrenes Verhältnis zur Militanz: Während die Randale in Hamburg zu Recht gegeißelt wird, wurden und werden brennende Barrikaden, maskierte Schläger und besetzte Stadtteile in Venezuela oder beim Kiewer Maidan als »demokratisch« geheiligt und verniedlicht.
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