Ver.di-Matrix Reloaded
Die Dienstleistungsgewerkschaft plant, ihre Struktur radikal zu reformieren
»Wegen Umbau geöffnet«, lautete eine sympathisch klingende, einladende Parole in der Anfangsphase von ver.di kurz nach der Jahrtausendwende. Dieser Slogan hat noch längst nicht ausgedient. So könnte ver.di demnächst wieder zu einer großen Organisationsbaustelle werden. Dies jedenfalls ist die Essenz eines Papiers des ver.di-Bundesvorstandes, das eine umfangreiche Reform der ver.di-Struktur - genannt »Matrix« - skizziert und derzeit bei haupt- und ehrenamtlichen Funktionären für Diskussionsstoff sorgt.
Offenbar vor dem Hintergrund finanzieller Sachzwänge soll die Zahl der Fachbereiche radikal von derzeit 13 auf nur noch vier reduziert werden, die dann zahlenmäßig etwa gleich stark wären. Einzig und allein der Fachbereich 3 (Gesundheit, soziale Dienste, Wohlfahrt und Kirchen) würde demnach künftig als Fachbereich mit dem Arbeitstitel Fachbereich D in der alten Form weiter existieren. Fachbereich A soll den vorliegenden Plänen zufolge aus den bisherigen Fachbereichen Finanzdienstleistungen, Ver- und Entsorgung, Bildung, Medien und Telekommunikation entstehen. Im Fachbereich B sollen die bisherigen Bereiche Sozialversicherung, Bund und Länder, Gemeinden, Verkehr und Besondere Dienstleistungen aufgehen. Fachbereich C würde sich aus den bisherigen Bereichen für Postdienste, Speditionen, Logistik und Handel speisen. »Mit der Bündelung in vier große Fachbereiche soll eine sinnvolle Flächenpräsenz erreicht werden, in Betreuungsregionen für die jeweiligen Fachbereichssekretär/-innen, die mit angemessenen Wegezeiten zu bewältigen sind«, heißt es in dem Papier des Vorstandes. Diese Gliederung schaffe die Möglichkeit von regionalen Teamstrukturen und bringe eine bessere Vernetzung, eine bessere Aufteilung der Zuständigkeiten sowie Wachstums- und Erschließungsimpulse mit sich, ist der Vorstand überzeugt. Die Hauptamtlichen sollen sich künftig stärker spezialisieren und auf Innendienst - also Mitgliederbetreuung in den Büros - oder Außendienst - also Betreuung von Betrieben - konzentrieren.
Das neue Modell soll vom Bundeskongress 2019 beschlossen und dann zügig umgesetzt werden. Im Vorlauf dürften schon die 2018 beginnenden turnusgemäßen Organisationswahlen vor allem im Zeichen des anvisierten Umbaus stehen. Der Prozess dürfte in jedem Fall viele Energien binden, die dann möglicherweise nicht voll für Tarifrunden, Betriebskämpfe und politische Kampagnen zur Verfügung stehen. Dies zeigt auch ein Rückblick auf die Entstehungsgeschichte von ver.di. 2001 hatten sich in der bislang größten Gewerkschaftsfusion der bundesdeutschen Geschichte die Gewerkschaften Öffentliche Dienste, Transport und Verkehr (ÖTV), Handel, Banken, Versicherungen (HBV), Deutsche Postgewerkschaft (DPG), IG Medien sowie die Deutsche Angestelltengewerkschaft (DAG) zusammengetan. Die neue Großorganisation ver.di sollte Stärke und Geschlossenheit ausstrahlen.
Der Prozess nahm jedoch sehr viel Kraft und Ressourcen in Anspruch. Schließlich ging es nicht nur um Kassen, Büros, Gremien, Zuständigkeiten und Befindlichkeiten von Aktiven, die sich alle in den neuen Strukturen wiederfinden sollten. Es war auch ein nicht immer konfliktfreies Zusammenwachsen von Gewerkschaftern mit unterschiedlichsten Erfahrungen - von linken, in Streiks gestählten Klassenkämpfern der IG Medien über die Beamtenriege von ÖTV und DPG bis hin zu den Akteuren der traditionellen Ständeorganisation DAG. Keiner wollte sich »unterbuttern« lassen. Eine Minderheit der IG Medien äußerte sich bis zuletzt betont skeptisch gegenüber der »Megafusion«. Mit Zugeständnissen in der Organisationsstruktur sollten dann aber auch murrende Skeptiker eingebunden werden. So wurde Wert auf ein starkes ehrenamtliches Element gelegt. Es entstanden die 13 branchenbezogene Fachbereiche wie auch Ortsvereine und ehrenamtliche Vorstände mit eigenen Budgets auf allen Ebenen. Personengruppen von Erwerbslosen über Arbeiter, Jugend, Beamte, Selbstständige, Meister, Techniker, Ingenieure bis hin zu Migranten und Senioren können sich in den Bezirken konstituieren und mit Sitz und Stimme in die Vorstandsgremien einbringen.
Wesentliche Argumente für die Fusion 2001 waren veränderte Branchenzuschnitte und die Hoffnung auf die geballte Stärke einer Großorganisation. Mit anfänglich 2,8 Millionen Mitgliedern war ver.di die größte Mitgliedsorganisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Doch heute ist die Dienstleistungsgewerkschaft mit rund zwei Millionen Mitgliedern deutlich schwächer als die IG Metall. Das hat unterschiedlichste Gründe. Einerseits verschwanden viele Jobs in alten Bastionen wie der Druckindustrie. Andererseits fanden sich einige »Traditionalisten« in einer anonym wirkenden Großorganisation nicht wieder. Oft wurde die personelle Betreuung in der Fläche faktisch ausgedünnt. Bei Tarifbewegungen sind die Belegschaften nach wie vor meist auf sich allein gestellt. Dies spüren derzeit auch die Streikenden im Einzelhandel. »Vor der Jahrtausendwende war die branchenübergreifende Solidarität der Einzelgewerkschaften in Arbeitskämpfen und Bewegungen gegen sozialen Kahlschlag größer als heute unter dem Dach von ver.di«, erinnert sich ein Insider wehmütig an die 1980er und 1990er Jahre.
Doch auch ver.di hat einige Arbeitskämpfe und Auseinandersetzungen geführt. Besonders intensiv war für die Gewerkschaft das »Streikjahr 2015«. Hier rief ver.di die Mitglieder zu großen und zum Teil lang andauernden Arbeitskämpfen bei der Post, im Sozial- und Erziehungsdienst, bei Amazon und an der Berliner Charité auf. Besonders die Auseinandersetzungen bei der Post und im Sozial- und Erziehungsdienst haben die Streikkassen strapaziert. Auch das ist - neben den sinkenden Mitgliederzahlen - sicherlich ein Grund dafür, dass ver.di nach Wegen sucht, finanziell wieder auf sichere Füße zu kommen. Auch wenn der Bundesvorstand seinen Vorschlag zur Strukturreform offiziell nicht damit begründet, scheint es naheliegend, dass solche Gedanken mit ausschlaggebend für die Initiative zur Neugestaltung der ver.di-»Matrix« gewesen sind.
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