Hungern für die Medikamente
Nationale Armutskonferenz fordert vollständige Kostenbefreiung für Sozialleistungsbezieher
Am Monatsende stehen viele Sozialhilfeempfänger vor der Wahl, sich den Geldbetrag für die private Zuzahlung für ein Medikament zu erhungern: 570 Gramm Spaghetti decken den täglichen Kalorienbedarf eines Erwachsenen und kosten beim Discounter 45 Cent. Da lässt sich sparen - mehr als vier Euro am Tag, verglichen mit dem für die Ernährung festgesetzten Hartz-IV-Regelbedarf. Von solchen Erwägungen berichten am Donnerstag Mitglieder der Nationalen Armutskonferenz bei der Vorstellung ihres Positionspapiers über die gesundheitlichen Folgen von Armut. Die zentrale Forderung des Zusammenschlusses aus Verbänden, Gewerkschaften und Betroffeneninitiativen lautet: Empfänger von Sozialhilfe, Wohngeld oder Kinderzuschlag sollen von der Zuzahlung für Medikamente und medizinische Leistungen vollständig befreit werden.
Arme seien durch das Gesundheitssystem systematisch benachteiligt, sagt Gerhard Trabert, Professor für Sozialmedizin und Sozialpsychiatrie an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden. Die derzeitige Lage sei ein Skandal, es komme zu Menschenrechtsverletzungen, insgesamt ein Fall struktureller Gewalt. So stürben arme Männer elf Jahre früher als ihre wohlhabenderen Altersgenossen, arme Frauen acht Jahre früher; das Risiko von Herzinfarkten und Schlaganfällen sei um das Zwei- bis Dreifache erhöht und die Suizidrate unter Arbeitslosen 20 mal höher als im Rest der Bevölkerung - so Traberts Begründung seines drastischen Urteils. Der Zusammenhang zwischen sozialer Lage und Krankheit sei inzwischen durch eine Vielzahl naturwissenschaftlicher Studien hinreichend belegt.
Doch die Bundesregierung ficht das nicht an. In ihrem aktuellen Armuts- und Reichtumsbericht, den das Bundesarbeitsministerium nach ressortübergreifender Zensur im April schließlich veröffentlicht hatte, heißt es: »Das deutsche Sozialsystem sorgt dafür, dass auch Menschen mit geringen Einkommen Zugang zu einem leistungsfähigen Gesundheitssystem erhalten.« Versicherte erhielten demnach alle »notwendigen« medizinischen Leistungen. Ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Einkommen einer Person und ihrem Gesundheitszustand sei nur bedingt herstellbar, stattdessen werde die Gesundheit »maßgeblich« durch den Grad der Bildung beeinflusst.
Die Nationale Armutskonferenz widerspricht: »Das erhöhte Gesundheitsrisiko unter Armen ist ausdrücklich kein Bildungsproblem«, sagt Barbara Eschen, Direktorin der Diakonie Berlin-Brandenburg. Sozialmediziner Trabert räumt ein, dass Bildung zwar wichtig sei, doch da das Sozialgesetz für Kinder nur einen Regelsatz für Nahrungsmittel von 2,92 Euro vorsehe, fehle ihnen die Möglichkeit, Wissen über Ernährung zu Hause anzuwenden.
Mit dem Positionspapier will die Armutskonferenz im Bundestagswahlkampf Druck auf die Parteien ausüben. Denn bislang werden Zuzahlungskosten, die Übernahme nicht verschreibungspflichtiger Medikamente und Fahrtkosten zu spezialisierten Krankhäusern außerhalb des Wohnorts weder im Regelsatz berücksichtigt, noch im Nachhinein erstattet. Im Jahr 2004 hatte die rot-grüne Bundesregierung die heute geltenden Zuzahlungsregeln im Rahmen ihrer Gesundheitsreform geschaffen. Ziel war, die Lohnnebenkosten durch Reduktion der Krankenkassenbeiträge zu senken, außerdem sollten die Krankenkassen nach damaligen Berechnungen von jährlichen Mehreinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Euro profitieren.
Im Bundesgesundheitsministerium tagte bis 2003 noch regelmäßig die Arbeitsgruppe »Armut und Gesundheit«. Man habe mehrfach die Wiederbelebung der Arbeitsgruppe angeregt, in der nach Angaben der Armutskonferenz Politik und zivilgesellschaftliche Organisationen gemeinsam Empfehlungspapiere und Gesetzesvorschlägen formuliert hätten. Doch bislang blieben die Interventionen erfolglos - symptomatisch für die Gesundheitspolitik der Bundesregierung, so Trabert, denn die habe sich seit ihrer Privatisierung von den Bedürfnissen der Patienten entfernt.
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