Die postdemokratische Verschlankung
Von Sebastian Kurz lernen? In Europa verbreitet sich zusehends eine neue Form wahlpolitischer Organisationen
Januar 2017 in Koblenz: Anführer rechter Parteien aus ganz Europa versammeln sich zum Gipfeltreffen. Auf Einladung der AfD-Chefin Frauke Petry sind Marine Le Pen, Geert Wilders und Matteo Salvini angereist. Dieses Jahr wird uns gehören, tönen sie.
Die Parteienlandschaften der westlichen Demokratien, fürchteten zugleich Beobachter, stünden vor erdrutschartigen Umbrüchen mit unbekannter Dynamik. Besonders Ende 2016 blickte man bang auf den möglichen Durchmarsch der Rechtspopulisten im europäischen Superwahljahr. Der FPÖ-Mann Norbert Hofer schien beste Chancen zu haben, Bundespräsident Österreichs zu werden. In den Niederlanden drohte ein Wahlsieg der PVV von Geert Wilders und in Frankreich eine Präsidentin Le Pen. In Italien hielten viele Neuwahlen mit massiven Zugewinnen für die Lega Nord für möglich. Dass auch in Großbritannien 2017 gewählt werden würde, stand damals noch gar nicht fest.
Diese Angst scheint sich schon wieder gelegt zu haben. In der kurzatmigen politisch-medialen Sphäre steht - zumindest in Deutschland - nach dem G 20-Gipfel nun der »Linksextremismus« im Vordergrund. Und zwei Monate vor den deutschen Bundestagswahlen scheint festzustehen, dass der noch im vergangenen Herbst allseits befürchtete Durchmarsch der Rechten zunächst ausgeblieben ist.
Doch ist die Gefahr für die Demokratie tatsächlich gebannt - und wenn ja, welche genau? Wie stellen sich die Kräfteverhältnisse zur Halbzeit jenes europäischen »Superwahljahres« dar? Hat EU-Ratspräsident Donald Tusk recht, wenn er im Juni an die Staats- und Regierungschefs schrieb, die EU-feindlichen Kräfte seien »nicht mehr auf dem Vormarsch« und man erlebe derzeit eine »Wende«, in der »die EU (...) nun eher als Lösung denn als Problem wahrgenommen« werde? Ist der vielfach diagnostizierte »proeuropäische« Ausgang der Wahlen der ersten Jahreshälfte tatsächlich Grund für einen neuen Optimismus - im Zeichen etwa jener im Juni veröffentlichten OECD-Prognose, die der Eurozone 1,8 Prozent Wachstum verspricht, laut »Zeit« gleichbedeutend mit »1,8 Prozent Hoffnung«?
Schon die Ergebnisse sprechen gegen eine Entwarnung. 46 Prozent gaben dem FPÖ-Mann Norbert Hofer ihre Stimme, das sind mehr als zwei Millionen. Elf Millionen wählten Le Pen bei der zweiten Runde der französischen Präsidentschaftswahl, drei Prozent gewann Geert Wilders in den Niederlanden hinzu. Ende Juni ging aus den italienischen Kommunalwahlen die Lega Nord gestärkt hervor. Allenfalls im Vergleich zu den vorher gehegten Katastrophenszenarien lässt sich hier von einem »Dämpfer« sprechen.
Vor allem aber ist es kurzsichtig, sich »nur« um die Rechten zu sorgen. Im Zusammenhang mit deren Aufstieg befindet sich das Parteiensystem der (west-)europäischen Nachkriegsordnung in einem atemberaubenden Umbruch. Wie in einem Brennglas zeigt sich dies in Österreich, wo das alte Parteiensystem schon seit Jahrzehnten mit der Herausforderung einer starken rechtspopulistischen Partei konfrontiert ist. Sollte die FPÖ, die in Umfragen lange in Front lag, bei den nun offiziell beschlossenen vorgezogenen Parlamentswahlen im Oktober »gestoppt« werden, wird dies nur zum Preis einer nicht nur inhaltlichen, sondern auch funktionalen Kopie ihres Ansatzes gelingen.
Dass ein 31-jähriger Tausendsassa die traditionelle konservative Volkspartei binnen Wochen in den personalisierten Wahlverein »Liste Sebastian Kurz« verwandeln konnte, ist unerhört genug. Doch sollte er, wofür die Umfragen sprechen, tatsächlich gewinnen, wäre dies ein epochales Ereignis, das über die Alpenrepublik hinauswiese: Die »Liste Kurz« stünde dann für das Siegesversprechen eines neuen, postmodernen Typus der Führerpartei, in der Politik von einer Clique von »Experten« um einen charismatischen Vorsitzenden vorgegeben wird und nicht länger durch die Mühlen von Orts- und Landesverbänden gedreht werden muss.
Das ist bedenklich. Denn natürlich sind diese postdemokratischen Wahlvereine wetterwendiger als herkömmliche Mitgliederparteien. Sie richten ihre Politik stärker auf Stimmungslagen aus. Was würde ein Kanzler Kurz tun, wenn im Land der »Kronenzeitung« nach der außereuropäischen Fluchtmigration die Zuwanderung aus östlichen EU-Staaten in einer Weise in den Fokus geriete wie in England vor dem Brexit? Die politische Form dieser neuen Wahlvereine ist nicht inhaltsneutral.
Europaweit schlingern derzeit traditionelle konservative Parteien. Zwar konnten sie - wie in Großbritannien (und auch die Umfragen der CDU sind ja gut) - Wahlen gewinnen, im Europäischen Rat haben sie viel Gewicht und dominieren die EU-Kommission. Doch das Gezerre um François Fillon in Frankreich und die offenbar unüberbrückbaren Differenzen bei den britischen Tories - bis heute herrscht dort keine Einigkeit über den Brexit - lassen aufmerken. Ist es so unwahrscheinlich, dass Konservative auch in anderen europäischen Ländern angesichts der Herausforderung von Rechts dem Modell Kurz zuneigen könnten - zumal, wenn dieser Erfolg haben sollte?
Das Experimentierfeld an der Donau zeigt zudem, wie machtvoll dieses Modell in ein Parteiensystem abstrahlen kann. Bei der SPÖ schwinden zunächst nur inhaltliche Skrupel: »Rot-Blau« im Burgenland gilt vielen nicht mehr als Skandal. Doch sind schon die dortigen Grünen offenbar nicht vor der politischen Form dieses neuen Führerprinzips gefeit: Ihr Zerfall wird zum Antreten einer »Liste Peter Pilz« führen, nachdem das neoliberale »Team Stronach« verschwunden ist.
Ähnlich sind die französischen Entwicklungen. Dass dort mit Emmanuel Macron ein »Proeuropäer« die Präsidentschafts- und Parlamentswahl gewann, nährt besonders in Deutschland die Hoffnung auf ein »Weiter so«. Eine »neue Achse Paris-Berlin« wird als »Merkronismus« gefeiert. Schließlich ist die deutsche Exportstrategie auf die EU und ein starkes europäisches Führungszentrum angewiesen. Dies verstellt den Blick auf das demokratiepolitisch Bemerkenswerte an Macrons Wahlverein. Er erinnert in seiner Struktur an die »Liste Kurz« - und gibt eine Vorschau auf den Politikstil solcher Kräfte: Ihr Anführer hat sich diese Woche ermächtigen lassen, seine wirtschaftsliberale Arbeitsmarktreform per Verordnung durchzusetzen, um Widerstände zu übertölpeln. Doch werden Bedenken gegenüber diesem Modell von Politik bisher kaum diskutiert.
Wie aber stellen sich die Sozialdemokraten angesichts dieser autoritären Verschlankung von Politik und Meinungsbildung auf? Im Groben sind drei Pfade zu erkennen. In Deutschland zeigt die SPD, nach kurzem Umfragehoch wieder auf ihr Normalelend gestutzt, wie aussichtslos eine Fortsetzung einer Politik à la Tony Blair und Gerhard Schröder ist. Dass ihr noch nicht, wie den niederländischen und französischen Sozialdemokratien nun widerfahren, der Absturz in Richtung Kleinpartei droht, ist wohl dem hierzulande vergleichsweise stabilen Umfeld zu danken.
In scharfem Kontrast dazu steht der Versuch Jeremy Corbyns, über eine Rückbesinnung auf traditionelle sozialdemokratische Politik in die Offensive zu gelangen. Zumindest bei den britischen Parlamentswahlen vom 8. Juni war Labour damit überaus erfolgreich - einem lautstarken Chor von Unkenrufen zum Trotz. Bemerkenswert ist, dass Großbritannien infolgedessen das im Superwahljahr bisher einzige Land ist, in dem die Rechten nicht zulegen konnten. Stattdessen erlitt UKIP eine schwere Niederlage. Bei den vorgezogenen Wahlen zum Unterhaus am 8. Juni kam sie nur auf zwei Prozent und hat damit kein Parlamentsmandat mehr. Noch 2015 hatte die rechte Partei 12,7 Prozent erringen können - damals ein Zugewinn von fast zehn Prozent, auch wenn man wegen des Mehrheitswahlrechts damit nur über einen Sitz im Unterhaus verfügte. Auch die Schweizer SP, die traditionell zwischen 20 und 25 Prozent erzielte, zuletzt aber unter 20 Prozent gefallen war, geht mit einem linken Programm für »Wirtschaftsdemokratie« einen ähnlichen Weg. Dessen wahlpolitischer Erfolg ist freilich noch nicht zu ermessen.
Eine dritte Richtung zeichnet sich in Frankreich ab - eine Art Mix aus Corbyn und Macron. In seiner »Bewegung« namens »Widerspenstiges Frankreich« kombiniert der Ex-Sozialdemokrat Jean-Luc Mélenchon eine offensive sozialdemokratische Agenda mit einem Stil charismatischer Personalisierung. Ähnlich hat auch der untergegangene PS-Präsidentschaftskandidat Benoit Hamon nun die Partei verlassen, um eine »Bewegung« zu gründen.
Gewiss wird die Bedeutung von Programmen überschätzt. Dennoch stimmt es bedenklich, wenn man schon namentlich nicht mehr an »Sozialismus« oder »Republik« appellieren, sondern sich mit »Widerstand« oder »Auf geht’s« politisch zunächst polyvalente Überschriften gibt. Urmodell und Extrem solcher Vereinigungen ist Geert Wilders’ »Partei für die Freiheit«, die schon deshalb keine demokratische Meinungsbildung kennt, weil es nur ein Mitglied - ihn selbst - gibt.
Selbst wenn also kommende Wahlen in EU-Staaten wie Österreich und Deutschland oder im engen Partnerland Norwegen - wo die rechten Populisten wie auch in Finnland derzeit mitregieren - keinen rechten Durchmarsch bringen sollten, sind in diesem Sinne längerfristige Sorgen um die Demokratie durchaus nicht unangebracht.
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